Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens

Tatort Gehirn

Das Buch versucht den biologischen Grundlagen der Kriminalität nachzuspüren. Hans Markowitsch und Werner Siefer wagen darin die Behauptung, dass sich bei Kapitalverbrechern "fast immer ein hirnbiologischer Hintergrund" finden lässt.

Das vermeintlich unerklärliche "Böse" hat anscheinend einen ziemlich genau lokalisierbaren Ursprung, es sitzt im Gehirn, es ist die Folge organischer Schäden und Fehlfunktionen. Der Münchner Wissenschaftsjournalist Werner Siefer stellt die von dem Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch geschilderten Praxisbeispiele in einen größeren historischen und erkenntnisgeschichtlichen Rahmen:

"Es sind besonders zwei auffällige Gebiete", erzählt er im Gespräch. "Da ist das Stirnhirn. Dort findet so etwas wie eine Fehlerkontrolle, eine Impulshemmung statt. Das Gehirn hinter der Stirn. Und da ist das limbische System, das Gefühle herstellt."

Neurowissenschaftler hätten "faszinierende und sehr eindeutige Zusammenhänge darüber zusammengetragen, wie die Schädigung mancher Regionen des Gehirns, Fehlfunktionen des Stoffwechsels oder aus der Balance geratene Botenstoffe zu psychischen Symptomen führen können, die Persönlichkeitsveränderungen bis hin zum Serienmörder begünstigen", erklären Markowitsch und Siefer in ihrem populär verfassten Buch, das zunächst, auf den ersten 100 Seiten, eher allgemeine Positionen und Problemfelder der medizinischen Psychologie referiert, von Franz Galls obskurer Phrenologie bis zu Freuds Psychopathologie des Alltags, von eingebildeten Krankheiten bis zum manipulierten Gedächtnis, bevor es dann in der zweiten Hälfte zum eigentlichen Thema kommt: dem Zusammenhang von Gehirn und Verhalten, von Neurobiologie und Kriminalität.

Organische und genetische "Fingerabdrücke"

"Tatort Gehirn" meint laut Werner Siefer nicht nur jenen Ort, an dem Verbrechen entstehen, sondern auch jenen, an dem diese ihren "Fingerabdruck" hinterlassen, wo sie ihre "schlimmsten Auswirkungen" zeigen. Der Blick aufs Gehirn liefert organische und genetische Befunde, die kriminelles Verhalten erklärbar machen, wie Stirnhirnabnormitäten und Veränderungen im Bereich der Schläfenlappen auf der einen Seite oder einen Mangel an Monoamino-Oxidase-Genen auf der anderen - Genen, die die Ausscheidung von Neurotransmittern regeln und mit Stressempfinden und Aggressivität korrelieren.

Soziopathisches, also auffällig gewalttätiges Verhalten, muss aber nicht "erworben", es kann auch "erlernt" sein, durch Erziehung und Umwelteinflüsse bedingt, durch geringe Zuwendung im Elternhaus, asoziales Milieu und Drogenkonsum. Auch diese formen das Gehirn.

Nicht Fisch, nicht Fleisch

"In Labors und Gerichtssälen bahnt sich eine Revolution an" orakeln Siefer und Markowitsch auf dem Buchumschlag, um dann zwischen den Buchdeckeln mit konkreten Belegen für diese Revolution eher zu geizen. Weder kann man zweifelsfrei den Ort des Verbrechens hinter der Schädeldecke zeigen, noch will man sich gegen einen biologischen Determinismus wenden. Weder teilt man expressis verbis jenen Neurobiologie-Hype, der darin kulminiert, dem Menschen den freien Willen und damit auch die Schuldfähigkeit abzusprechen, noch distanziert man sich von einer "Neurojurisprudenz", die die herkömmliche Rechtssprechung zur Makulatur erklärt.

Im Gegenteil, man fordert eine "neurowissenschaftliche Reform" des Rechtssystems, ohne freilich genau zu sagen, wie diese auszusehen habe. Weder riskiert man eigene Thesen, die über den Charakter von Mutmaßungen hinausgehen, noch unterzieht man Spekulationen anderer einer kritischen Prüfung. So findet sich in den entscheidenden Kapiteln des Buches viel Dahingesagtes - und wenig Hinterfragtes; viel Angeschnittenes, aber wenig Vertieftes. "Tatort Gehirn" liefert statt erstaunlich spektakulärer Befunde eher erstaunlich diffuse Verlautbarungen.

Psychiatrien statt Gefängnisse?

Wird die Hirnforschung die Aufklärung und Bekämpfung von Kriminalität tatsächlich erleichtern? Werden in Zukunft "Hirnscanner" unseren Alltag bestimmen, die zum Ziel der Terrorabwehr und Verbrechensprophylaxe uns auf verdächtige Hirnaktivitäten hin durchleuchten? Wird mit medikamentösen und chirurgischen Mitteln für ein reibungslos funktionierendes Gehirn gesorgt werden? Wird man, wenn der freie Wille als Fiktion enttarnt ist, das Strafrecht abschaffen und die Gefängnisse zu Psychiatrien umbauen? Wird der Mensch ein gläserner werden?

Keine Frage, die Hirnforschung ist ein spannendes Feld, und nirgendwo sonst ist der Übergang zwischen Fakt und Fantasie, zwischen Empirie und Megalomanie so fließend: Auch das machen Siefer und Markowitsch in "Tatort Gehirn" deutlich, ihrem abwechslungsreichen, aber nicht wirklich befriedigendem Buch. Dass die Suche nach dem Ursprung des Verbrechens, wie der Untertitel ihres Buches heißt, nicht wirklich abgeschlossen werden konnte, muss vielleicht kein beunruhigendes Zeichen sein.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Hans J. Markowitsch, Werner Siefer, "Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens", Campus Verlag