Lektüre im kleinsten Raum

Bücher an stillen Orten

Das Wörtchen "still" hat viele Bedeutungen. Zunächst bedeutet es einfach nur "still". Aber denken Sie auch an die immer hektischer werdende "stillste Zeit im Jahr", die sich jetzt schon bemerkbar macht. Oder an ein gewisses "stilles Örtchen".

Was hat das "stille Örtchen" mit Büchern zu tun? Streng nach Etikette gar nichts. Streng nach Etikette dürfte dieses s. Ö. überhaupt nicht existieren! Obwohl die menschliche Natur es vehement einfordert. Und überhaupt ein gepflegtes Ebensolches nicht nur Thema diverser Auftritte im Werbefernsehen, sondern auch unverzichtbarer Inhalt vieler Urlaubserlebnisberichte zu sein scheint. "Die Toiletten auf dem Campingplatz von XY? So sauber, dass du vom Boden essen könntest! Aber die in dem Hotel Z, also bei uns wäre das Hotel schon lange zugesperrt. Aus hygienischen Gründen!"

Es ist längst Zeichen von höher entwickelter Kultur geworden, gewisse lebensnotwendige Verrichtungen in angenehmer, indirekt beleuchteter, gut duftender, gar mit frischen Schnittblumen geschmückter, fallweise sogar mit leise säuselnder Musik tapezierter Umgebung zu tätigen. Warum sollten diese freundlichen Örtlichkeiten nicht auch mit einem gewissen Grundstock an Lesestoff ausgestattet werden?

Zugegeben, es gab Zeiten, da hatte man den Lesestoff direkt vor sich, vorerst. Da wurden Zeitungen weniger des Inhaltes als der Papierqualitäten wegen eingekauft. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Man pflegt sich daran nicht mehr zu erinnern, in Zeiten von kuschelweichem Tö-Papier, das so enorm hygienisch ist, dass man es als Verbandsmull verwenden könnte. Es wird gar nicht mehr lange dauern und man wird Musikfreunden die folgende Anekdote erklären müssen: Max Reger schreibt einem Kritiker: "Verehrter Herr, ich befinde mich im kleinsten Raum meiner Wohnung. Noch habe ich Ihre Kritik vor mir, bald werde ich sie hinter mir haben!"

Mein erstes Zusammentreffen mit einer, nennen wir sie doch beim Namen: Klo-Bibliothek fand in Paris statt. Ein heimeliges Kaffeehaus in der Rue - egal! - dessen Räumlichkeiten mich zuerst in echten Schrecken versetzten: Ich fand keinen Lichtschalter. Bis eine freundliche Prä-Benutzerin mich einfach hineinschubste und die Tür zumachte - da war es, das Licht.

Unmittelbar nach der Erleichterung, auf der Suche nach dem damals noch nicht obligat Kuschelweichem, traf mein Blick einen riesigen Stapel Opernzeitschriften. Der Besuch dauerte etwas länger als geplant, bis nämlich mein Verlassen dringend gefordert wurde. Damals beschloss ich, auch bei mir zuhause eine kleine Auswahl im s.Ö. zu etablieren. Das war vor dreißig Jahren.

Mittlerweile haben wir - auch mein Mann fand den Gedanken ausgewählter Örtchenbücher durchaus ansprechend - eine Menge Erfahrungen diesbezüglich gesammelt. Dringend wollen wir Nachahmern davon abraten, Bücher mit zu langen Geschichten aufzustellen. Und eine gewisse Vorsicht ist auch bei Witzesammlungen geboten.

Ich erinnere mich an einen Abend, an dem einer unserer Gäste verschwand, was zunächst niemand der anderen bemerkt hatte. Bis entferntes Gekicher zu ebenso entferntem lauten Gelächter in immer kürzer werdenden Abständen wurde. Nach angemessener Zeit - wir hatten in weiser Voraussicht nur schmale Büchlein deponiert! - tauchte unser Freund mit leuchtenden Augen und immer noch wiehernd auf, ungewolltes Vorbild, da sich unsere Gäste einer nach dem anderen ebenso betont unauffällig ebenfalls für eine Weile verdrückten. Es wurde ein sehr fröhlicher Abend.

Anfängern sei ausdrücklich ans Herz gelegt, den Bestand an Witzebüchern gering zu halten. Und es empfiehlt sich, die Büchlein immer wieder auszuwechseln.

Sollten Sie zu den Menschen gehören, die dem Luxus zweier Örtlichkeiten frönen können, dann haben Sie Gelegenheit, Ihren privatesten Ort mit Ihren privatesten Lieblingsbüchern auszustatten.

Fotobände eignen sich sehr, falls sie nicht zu großformatig sind. Lyrikbände haben mich bis jetzt nicht wirklich überzeugt. Dringend abraten muss ich von schlechter Literatur, die gerne zu ungewollten Obsipationen führt. Aufpassen auch bei Satire: nur Lieblingssatiriker nehmen. Sehr empfehlenswert: Bücher, die man schon lange lesen sollte, die sich jedoch, weil Pflichtlektüre, so schwer in die Hand schmeicheln. Glauben Sie mir, am stillsten Ort werden Sie - vor allem, wenn es das einzige Buch in greifbarer Nähe ist - die Pflicht Absatz für Absatz schätzen lernen!