Eine fast komische Geschichte
Streit um Orpheus
Die mythologische Gestalt des Orpheus war nach antiker Überlieferung der größte Sänger unter der Sonne und soll, so die Überlieferung, aus dem antikem Thrakien stammen. Jetzt wird darum gestritten, ob er Mazedonier, Grieche oder doch Bulgare war.
8. April 2017, 21:58
Thrakien
Das antike Thrakien dehnte sich über das Gebiet des heutigen Griechenlands, der Türkei und zu seinem größten Teil über das heutige Bulgarien aus. Die genaue Bestimmung Thrakiens wurde im Lauf der Geschichte immer wieder in Frage gestellt, ein Schicksal, das es mit fast allen alten Gebietsbezeichnungen teilt.
Es ist kaum möglich einen Teil der Erde zu finden, in dem sich so viele verschiedene Volksgruppen bewegten und einander auslöschten. Die Neuangekommenen vernichteten die Ansässigen, oder sie mischten sich mit ihnen, sie erbten und veränderten angetroffene Sitten, Religionen und Sprachen.
Diese nicht immer klaren Raumdefinitionen lassen braven Historikern, Amateurhistorikern, Journalisten, Intellektuellen, und nicht zuletzt Politikern der jeweiligen Anrainerstaaten, viele Möglichkeiten, ihren Zwecken und Zielen entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.
Der Fall Mazedonien
Einer der prekärsten und aktuellsten Beispiele dafür ist der langjährige Streit über das Gebiet und den Namen des antiken Mazedoniens, wie er zwischen Griechen und Mazedonier (den Bürgern der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien, wie der offizieller Titel lautet) schwelt.
Unabhängig davon, seit wann sich eine Volksgruppe oder Nation in diesem Raum befindet, versuchen alle, mit seltsamer Leidenschaft, ihre Ansässigkeit mit tausendejähriger Anwesenheit in dem Raum zu untermauern. Niemand wird müde zweifelhafte Beweise von unbestreitbaren Wurzeln seiner direkten Nachkommenschaft von vormythischen, mythischen und historischen Ureinwohnern zu präsentieren. Dass einige Gruppen, beweisbar, fast zweitausend Jahre nach dieser Altzeit in den Raum gekommen sind, behindert deren Suche nach geradliniger (prä-)historischer Verwandtschaft nicht.
Diese immer wiederkehrende Vereinnahmung mythischer Figuren hat für den Außenbetrachter einen merkwürdigen Beigeschmack.
Der Streit um Orpheus
Vor kurzem hat die Tageszeitung "Utrinski dnevnik" ("Morgenzeitung") aus Skopje, Mazedonien, einen Artikel unter dem Titel "Orpheus und Mazedonien" veröffentlicht. Der sichtbar erregte Kolumnist Nikola Gelevski schreibt: "Die griechische Monopolisierung der antiken Geschichte hat nicht nur uns Mazedonier beleidigt, sie widerspricht auch dem gesunden Menschenverstand". Neben die griechischen Nicht-Anerkennung der nationalen Symbole der heutigen Republik Mazedonien schreibt der Journalist über Orpheus, der, seiner Meinung und seines Wissens nach, ein Mazedonier war: "Orpheus hat, wie bekannt ist, die längste Periode seines Lebens in Mazedonien verbracht und er ist sogar dort getötet worden", steht unter anderem im Artikel.
Als wichtigsten Zeugen dafür nimmt Gelevski den bekannten Experten für griechische Mythologie, den Briten Robert Graves. Dabei stört den Journalisten überhaupt nicht, dass Graves in seinen Büchern nicht über historische, sondern über mythische Personen schrieb.
Die bulgarische Seite
Es dauerte nicht lange und in dieser griechisch-mazedonischen Angelegenheit mischte sich eine dritte Seite ein. Aus Bulgarien haben sich die Befürworter der mythischen und geschichtlichen Wahrheit gemeldet. Die Zeitung "Standart" aus Sofia fand sich berufen auf die mazedonische Geschichtsdeutung zu reagieren.
Am 14. November 2007 hat man auf unter dem Titel "Orpheus hat den Mazedonier kein Alphabet gegeben" auf die Behauptung von Gelevski in "Utrinski dnevnik" hingewiesen, dass die Mazedonier ihre Schrift vom mythischen Sänger bekommen haben. Der Archäologe Nikolaj Ovcarov äußerte sich sehr scharf über die Angaben in der mazedonischen Zeitung. "So etwas ist völlig idiotisch, weil Mazedonien damals noch nicht existierte. Die mazedonischen Historiker neigen dazu, die Geschichte zu stehlen."
Happy End?
Dass das alles nicht zu weit gegangen ist, zeigen die Kommentare von anderen beteiligten Experten im "Standart". Der Thrakien-Forscher Ivan Marazov schreibt, dass die Behauptung der mazedonischen Medien eine "absolute Dummheit" sei und er fügt auch hinzu, dass man die ganze Sache nicht ernst nehmen sollte. "Orpheus ist eine mythische Figur und als solche gehört er keiner Nationalität an. Das sollte auch nicht in politischen Spielereien ausgenützt werden."
Inwieweit sich die heutigen Bewohner der ehemals thrakischen Länder mit diesen Auseinandersetzungen identifizieren und wie ernst sie diese Diskussionen nehmen, bleibt offen.
"Man erzählt es auch so, dass die vom schönen Klang der Musik betörten wilden Tiere, Pflanzen und Steine harmonisch um Orpheus herumgestanden hätten", steht auf einer Website über Orpheus und Thrakien. Man sollte hoffen, dass die Menschen in der Gegend auch seine Lieder hören werden und dass sie harmonisch weiter zusammenleben werden. Wenn es den "Tieren, Pflanzen und Steinen" gelingt, warum nicht auch den Menschen?
Mehr zum Thema "Thrakien" in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Robert Graves, "Griechische Mythologie", Rowohlt
Links
Utrinski dnevnik
Standart
Radio Bulgaria - Orpheus-Heiligtum
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