Patchworkland Rumänien - Teil 3
Allein gelassene Kinder
Im Rumänien nach Ceausescu schwankt der Wohlstand beziehungsweise der Grad an Armut je nach Landesteil, die Moldauregion ist eine der ärmsten Regionen. Viele Menschen versuchen ihr Glück im Westen und lassen ihre Kinder allein zurück.
8. April 2017, 21:58
Die Moldauregion zur Grenze Moldawiens hin ist eine der ärmsten Gegenden Rumäniens. Wie im ganzen Land findet man zwar relativ leicht Arbeit, jedoch oft zu mickrigem Lohn. Besonders viele von hier versuchen ihr Glück im Westen. Mehrere Monate in Spanien, Portugal oder Italien sollen den ersehnten Wohlstand bringen, das neue Auto, das neue Haus, wie es der Nachbar hat.
Die Kinder kann man als Billighackler im Westen schwer mitnehmen, also gibt man sie inzwischen in die Obhut von Verwandten oder Freunden. Damit beginnt häufig ein Problem, das inzwischen die Sozialbehörden beschäftigt.
2.700 alleinstehende Kinder
Die Kreisstadt Bacau, 300 Kilometer nördlich von Bukarest. 2006 war die "Direktion zum Schutz der Kinder" mit 1.800 zurückgelassenen Kinder befasst, seit dem EU-Beitritt Rumäniens 2007 ist die Zahl der hier gemeldeten Fälle auf 2.700 angewachsen, erklärt Direktor Sorin Brasoveanu.
"Das ist eben diese 'Magie des Westens'. Sie glauben alle, dass dort schon ein gut bezahlter Arbeitsplatz auf sie wartet. Dann stellen sie fest, dass es nicht so ist. Vielleicht finden sie nicht gleich Arbeit und haben nicht das Geld, um heimzukehren, oder werden krank, und durchleben eine schwere Krise. Man kann aber nicht sagen, dass sie ihre Kinder vorsätzlich verlassen."
Als Billigarbeitskraft im Westen
Mircea, 14 Jahre alt, Name geändert, hat die Klasse wiederholen müssen. Seine Krise hat begonnen, als er elf war. Damals beschloss der Vater, Arbeit in Italien zu suchen. Der Stand der Eltern am Gemüsemarkt war nicht gut gegangen. Der Vater reiste also ab nach Süditalien, und bald gab es von ihm kein Lebenszeichen mehr. Die Mutter nahm eine Hypothek auf die Wohnung auf, um ihren Mann suchen fahren zu können. Sie fand ihn unter, wie sie sagt, sklavenähnlichen Bedingungen in einem Restaurant in den sizilianischen Bergen. Er fuhr zurück zu den Kindern; sie blieb in Süditalien, um es halt doch noch zu probieren.
"In einem Strandrestaurant habe ich 650 Euro pro Monat verdient, Kost und Quartier waren frei. Aber den Job gab es nur in der Sommersaison. In den restlichen Monaten habe ich mich mit Gläserputzen für alte Damen und Ähnlichem über die Runden gebracht. Das Geld hat kaum zum Leben gereicht. Ich weiß jetzt: Mit ehrlicher Arbeit kann man als Gastarbeiter in Italien nie im Leben reich werden. Wenn Leute heimkommen mit einem teuren Auto und 10.000 Euro, dann haben sie das mit kriminellen Tätigkeiten verdient."
Etwas ganz anderes sei es, wenn man schon mit einem regulären Arbeitsvertrag in der Hand gen Westen reist. Aber Hunderttausende Rumänen fahren einfach los und versuchen es aufs Geratewohl. Mirceas Mutter konnte keinen Groschen nach Hause schicken. Der Vater verdächtigte sie, einen Liebhaber gefunden zu haben, und verbot ihr, mit den Kindern zu telefonieren. Wegen einer Operation ihrer 9-jährigen Tochter kam sie nach Bacau zurück. Allerdings nur vorübergehend, denn Mirceas Eltern wollen sich nun scheiden lassen. Die Mutter will nach Italien zurückgehen und die Tochter mitnehmen. Mircea soll beim Vater bleiben. Der Junge spricht kaum, hat eiskalte feuchte Hände. Dass er nach allem, was passiert ist, die Mutter gleich wieder verlieren soll und die Schwester dazu, das bedeutet für ihn einen sichtlich unerträglichen Leidensdruck.
Rettung durch Pflegefamilien
Es kommt auch vor, dass Kinder ganz auf sich gestellt bleiben, weil die Eltern ursprünglich nur ein paar Monate in den Westen wollten und meinten, das älteste Kind würde es schon schaffen, derweil auf die anderen aufzupassen. Tatjana, Name geändert, ist 16, hat eine Schwester und zwei Brüder, alle jünger als sie.
"Sie ist seit zwei Jahren und drei Monaten fort. Wir wissen nicht, warum sie nicht zurückkommt. Sie hat beim Weggehen gesagt, sie würde nach drei Monaten zurückkommen, wenn die Schule wieder anfängt. Aber sie ist nicht gekommen."
Auf Intervention der Behörde hat sich schließlich eine nette Pflegefamilie gefunden, und unter der Woche wohnen die Kinder im Internat in Bacau, wo sie sich gut integriert fühlen. Vielleicht wären die Mädchen ohne das Unglück mit ihrer Mutter nicht zu einer höheren Schulbildung gekommen, meint die Psychologin, die sie betreut. Über den Kummer hilft das nur bedingt hinweg.
Wenig Bargeld, aber beste Lebensmittel
Nach dem Besuch, auf der Straße, legen die Psychologin und die Anwältin los. So unerträglich groß sei der Druck der Armut nicht mehr, dass man deswegen die Kinder allein lassen müsse.
"650 Euro im Monat wie diese Frau in Italien, so viel kann man mit etwas Mühe auch hier verdienen - nicht nur in Bukarest, auch in der Moldau. Kürzlich hat das Arbeitsamt in Bacau 300 Jobs inseriert. Manche Kolleginnen von uns nehmen eben einen Zusatzjob. Ich verstehe nicht, warum sich die Leute lieber im Ausland versklaven lassen, als hier zu arbeiten und auf dem eigenen Kopfpolster zu schlafen. Die Menschen auf dem Land haben zwar wenig Bargeld, aber die besten Lebensmittel aus der eigenen Landwirtschaft. Hier bei uns lebt man in einer recht entspannten Atmosphäre, und es herrscht ein gewisser Optimismus jetzt."
Mehr zum Patchworkland Rumänien in oe1.ORF.at
Die Dörfer der Siebenbürger Sachsen
Europäischer Mikrokosmos
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 19. November, bis Donnerstag, 22. November 2007, 9:30 Uhr
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