Die innere Leere verscheuchen

Stierhunger

Wie schon in ihrem ersten Roman "Kingpeng" lässt Linda Stift die Hauptfigur ihres neuen Buches "Stierhunger" durch ein Schlüsselerlebnis aus ihrem Phlegma erwachen. Der Autorin ist etwas Beachtliches gelungen: ein Text, der über sich hinauswächst.

"Wollen Sie sich mit mir einen Gugelhupf teilen?", fragt eine alte Dame vor dem hübsch dekorierten Fenster einer Konditorei. Die Ich-Erzählerin begleitet diese "Frau Hohenembs" - wie sie sich nennt - in ihre Wohnung, in der sich neben auffällig vielen Porträts der Kaiserin Elisabeth auch Haustiere, Turngeräte und sonstiger altmodischer Krempel befinden.

Die Urahnin der Esstörungen

Dort wird mit Haushaltshilfe Ida eine schöne Gugelhupfjause zubereitet. Nach dem ersten zaghaften Biss in den Kuchen, bestreicht die namenlose Hauptdarstellerin das zweite Stück schon mit Marmelade, das dritte und vierte gleich mit Butter. Wieder zuhause angekommen, plündert sie hemmungslos ihren Kühlschrank. Plötzlich ist er zurück, der "Stierhunger", das rasende Verlangen nach Essen. Wie schon in ihrem ersten Roman "Kingpeng" lässt Linda Stift die Hauptfigur durch ein Schlüsselerlebnis aus ihrem Phlegma erwachen, das Seidentuch wird weggezogen.

Stierhunger ist eine andere Bezeichnung für die Ess-Brechsucht, die Bulimie, eine Krankheit von der die Autorin selbst vor Jahren betroffen war. Die Romanfigur Frau Hohnembs - eine bizarre Sisi-Wiedergängerin - verkörpert in diesem Zusammenhang so etwas wie die österreichische Urahnin der Esstörungen. Im Buch repräsentiert sie das Ideal der Kontrolle, gertenschlank und sportlich, jemand der sich vorgeblich völlig im Griff hat, und zu dem die an Bulimie leidende Hauptfigur aufschauen kann. Die Ess-Brech-Sucht als eine Art emotionaler Hunger, der sich in realem Hunger ausdrückt, ist gleichzeitig auch eine traurige und banale Metapher für unsere Zeit: Sich am liebsten die ganze Welt einverleiben um die innere Leere zu verscheuchen. "Ich kann ja nicht so viel fressen wie ich kotzen möchte", zitiert die Autorin Max Liebermann.

Ineinander verkettet

Während sich die anorektische Frau Hohenembs und die bulimische Hauptdarstellerin im Laufe der Romanhandlung immer mehr ineinander verketten, sorgt Haushilfe Ida, eine Art Sancho Pansa, ein molliger Sidekick, für jene Lustbarkeiten, die den beiden Sparring-Partnern verwehrt bleiben: Überall hat Ida Naschereien versteckt, sie macht gerne mal ein Nickerchen und vergnügt sich regelmäßig mit ihrem Liebhaber.

Linda Stift mischt die Icherzählung mit kursiv gesetzten Texten, Zitaten aus diversen Briefen von Sisis Hofdamen. Kaiserin Elisabeth nannte sich "Gräfin von Hohenembs", wenn sie inkognito unterwegs sein wollte, und eine ihrer engsten Vertrauten war Ida Ferency. Die einzige, an die man während der 170 Seiten Lektüre erfreulicherweise nicht denkt, ist Romy Schneider, denn Linda Stifts Sissy hat so gar nichts Mädchenhaft-Liebreizendes an sich.

Schritt für Schritt wird die Ich-Erzählerin dem strengen Regime der Frau Hohenembs unterworfen - und sie lässt sich das gefallen, denn viel zu verlieren hat sie ohnehin nicht. Keine Freunde, keine Arbeit, keine Familie, nur eine lesbische Beziehung wird da vage angedeutet.

Vermeintliche Normalität

In "Stierhunger" geht es um mehr als nur um eine seltsame Begegnung, um mehr als das Thema Essstörung oder Sissy-Klischees. Es geht um die Anarchie, die unter dem Panzer des Alltagslebens wartet, es geht um die Idee von Kontrolle über den eigenen Körper und über sein Leben, und darum, dass unsere vermeintliche Normalität eigentlich das Absurdeste und Unberechenbarste überhaupt ist. Das führt Linda Stift virtuos vor, wenn sie mit erbarmungsloser Strenge ihren Realismus bis zur Ekelgrenze steigert, um drei Zeilen später davonzuschweben, wegzugleiten in eine Welt der Phantasie, der Ungeheuerlichkeiten, in eine verschmitzte und leichtfüßige Abenteuergeschichte.

Gleichzeitig dreht Stift die Schraube zu, zieht das Netz zusammen, führt den Leser aus einer vertrauten Umgebung unbeugsam in den Abgrund, lässt ihn dabei hinterhältig im Glauben, dass sowohl die Hauptfigur wie auch er selbst dem Sog dieses Buches entkommen könnten. Und dann, zum Schluss, wenn die zwei anonymen Polizisten die Protagonistin mit stahlhartem Griff in ihre Mitte nehmen und abführen, taucht Franz Kafka zwischen den Zeilen auf, und man begreift, wo diese Dringlichkeit und Unentrinnbarkeit in der Erzählweise ihr Vorbild hat.

Linda Stift sitzt nicht ständig auf Podien und diskutiert über den österreichischen Literaturhype oder die Lage der Nation, sie ist ein stiller Wasser und ihr ist mit diesem Buch ganz unprätentiös etwas Beachtliches gelungen: ein Text, der über sich hinauswächst, der abhebt, und dabei doch präzise unsere Gegenwart erforscht.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Linda Stift, "Stierhunger", Deuticke Verlag