Gymnasium und Hausgemeinschaftsmodell

Drei Generationen unter einem Dach

Mehr als 500 Schüler/innen werden im Neubau des Evangelischen Gymnasiums in Wien Erdberg unterrichtet. In den Stockwerken darüber wohnen 39 Senioren der Wohngemeinschaft der Diakonie. Zwischen den Stockwerken soll es zu Begegnungen kommen.

Schüler und Senioren unter einem Dach; das ist ein einzigartiges Projekt, das vom Evangelischen Gymnasium Wien gemeinsam mit dem Evangelischen Diakoniewerk Gallneukirchen verwirklicht wurde. Im neuen Gebäude, in Wien-Erdberg, in der Nähe der Gasometer, werden 500 Schüler und Schülerinnen im Erdgeschoss und in den beiden darüber liegenden Stockwerken unterrichtet. Und in den Stockwerken oberhalb des Gymnasiums wohnen pflegebedürftige Senioren und Seniorinnen in Wohngemeinschaften der Diakonie. Zwischen den Stockwerken und den Generationen soll es zu Begegnungen kommen.

"Wir haben ein diakonisch-soziales Schulprofil", erklärt die Direktorin der Schule, Elisabeth Sinn, "die Herzensbildung der jungen Menschen und die Vermittlung von Werten ist uns als konfessionelle Schule besonders wichtig."

Herzens- und Handwerksausbildung

Der diakonische Schwerpunkt und die Organisationsform als neunjähriges Werkschulheim (wo die Schülerinnen und Schüler zusätzlich zur Matura auch eine Ausbildung als Tischler, Gold- und Silberschmied oder als EDV-Techniker machen können) sind die Besonderheiten des Evangelischen Gymnasiums in Wien.

"Die Begegnungen mit den alten Menschen machen mich immer glücklich", sagt Lisa Marie Mahr. Sie hat lange blonde Locken, geht in die 9a und hat sich vor fünf Jahren für das Freifach "gelebte Diakonie" angemeldet. Jan Demel hat einen grell-pink gefärbten Pferdeschwanz; er geht in die gleiche Klasse und ist seit einem Jahr dabei. "Die Begegnungen mit den älteren Menschen sind oft sehr berührend." Im Anschluss an seine Matura und die Gesellenprüfung möchte Jan als Zivildiener ins Ausland gehen.

In der Vorweihnachtszeit haben die Schüler geholfen, die Gänge der Wohngemeinschaften zu dekorieren, und eine ältere Bewohnerin hat für jeden ihrer regelmäßigen jugendlichen Besucher einen bunten Schal gestrickt.

"Die Fröhlichkeit bei den älteren Menschen und auch bei unseren Schülern – die ist für mich immer wieder faszinierend", sagt Almut Maria Krenn. Die ausgebildete Geragogin unterrichtet am Evangelischen Gymnasium in Wien Psychologie und Geschichte.

Diakonisches Lernen
Danielle Carrara ist evangelische Pfarrerin und Lehrerin am Evangelischen Gymnasium in Wien. Gemeinsam mit Almut Maria Krenn hat sie ein Konzept erarbeitet, wie das "diakonische Lernen" im neuen Haus in die Praxis umgesetzt werden kann. "Ich habe kaum Berührungsängste zwischen den Generationen erlebt", sagt sie erfreut.

39 Seniorinnen und Senioren sind in den vergangenen Monaten in die 3 Hauswohngemeinschaften des Evangelischen Diakoniewerkes Gallneukirchen in Wien-Erdberg eingezogen.
Die Architektur des Hauses bietet der Schule und dem Altenwohnheim getrennte Bereiche, unterstützt aber auch die Begegnungen zwischen den Generationen.

Durch die L-Form des Gebäudes können die Seniorinnen und Senioren den Schülerinnen und Schülern beim Lernen durch die Fenster hindurch zuschauen. Auf die Begegnungen mit der jüngeren Generation werden sie vorbereitet, erzählt die Leiterin der Hausgemeinschaften, Barbara Nothnagel: "Wir möchten sie nicht überrumpeln, sondern die Vorfreude in ihnen wecken. Und die Vorfreude auf die Besuche der jungen Menschen ist bei unseren Bewohnern groß!"

Gemeinsame Werte
Den beiden Partnern im neuen Haus, dem Evangelischen Gymnasium und den Hausgemeinschaften der Diakonie, ist ein gemeinsames christliches Welt- und Wertebild wichtig. "Deshalb knüpfen wir in den Begegnungen der Generationen auch an den Festen des Kirchenjahres an", erzählt Barbara Nothnagel, und sie ergänzt: "Für die älteren Menschen ist das eine gute Orientierungshilfe und weckt positive Erinnerungen." Für den kommenden Frühling ist zusätzlich ein gemeinsames Garten-Projekt geplant. "Wir möchten das Wissen der beiden Generationen zusammenführen und nutzen", sagt die gebürtige Deutsche mit einem Schmunzeln.

Gemeinsames Feuer
In jeder Hausgemeinschaft sind die Zimmer rund um eine Wohnküche angelegt. So können die Bewohner nach Wunsch die Gesellschaft der anderen genießen oder sich in ihr Zimmer zurückziehen. Gekocht wird in jeder einzelnen Wohngemeinschaft, und wer möchte, kann sich nach Kräften beteiligen.

"Ich bin die erste Bewohnerin meines Zimmers und glücklich hier", sagt Maria Schenk. Sie ist Ende Mai eingezogen. Aus ihrer Wohnung hat Maria Schenk Fotos und andere Erinnerungsstücke in ihr neues Zuhause mitgenommen. Der erste Besuch der Schüler und Schülerinnen ist der über 80-jährigen Wienerin lebhaft in Erinnerung: "Zuerst waren sie sehr schüchtern, aber dann haben sie sich sogar auf meine Bettkante gesetzt und geplaudert. Ich freu mich schon auf den nächsten Besuch, und ich hab' die Jugendlichen gebeten, Namensschilder zu basteln – denn ich merke mir die Namen ja nimmer."

Denkanstöße
"Unsere Bewohner sind von diesen Begegnungen sehr begeistert", erzählt Irene Schwarz. Sie ist diplomierte Seniorenfachkraft und als sogenannte "Alltagsmanagerin" für eine der drei Hausgemeinschaften in Wien-Erdberg verantwortlich. Irene Schwarz erhofft sich durch die in Zukunft regelmäßigen Begegnungen der Generationen nicht nur mehr Lebensfreude für die Senioren, sondern auch ein Umdenken in Bezug auf das Alter bei den Jüngeren.

Nicht für die Schule lernen
"Spiritus Rector" des neuen Modells in Wien-Erdberg ist Michael Chalupka, Direktor der Diakonie Österreich: "Soziale Kompetenz und eine umfassende Herzensbildung der Schüler - das sind neben dem "klassischen Lernstoff" und der Form des Werkschulheims die Besonderheiten des Evangelischen Gymnasiums. In der Schule werden konkrete Möglichkeiten geboten, diakonisches Arbeiten kennen zu lernen und sich praktisch zu engagieren."

Im Rahmen dieser "gelebten Diakonie" gibt es neben den Senioren im eigenen Haus auch konkrete Projekte für Straßenkinder und Asylanten sowie für Behinderte. Der diakonische Ansatz schließt für Diakonie-Direktor Michael Chalupka eine tolerante, weltoffene und ökumenische Haltung mit ein. "Wir brauchen gut ausgebildete Schülerinnen und Schüler, die in dieser Welt bestehen können und wir legen Wert auf hohe soziale Kompetenz und Sensibilität und ein Gefühl der Verantwortung für diese Welt."

Hör-Tipp
Motive, Sonntag, 23. Dezember 2007, 19:05 Uhr

Link
Evangelisches Gymnasium