Eine Reise ins Land der Cosa Nostra

Der Pate. Letzter Akt

Mit den jüngsten Verhaftungen ist für viele schon das Ende der sizilianischen Mafia eingeläutet. Für den Italien-Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung", Henning Klüver, ist das verfrüht. Seiner Ansicht nach ist die Mafia nur dabei, sich neu zu strukturieren.

In der Montagna dei Cavalli am Rande der kleinen sizilianischen Stadt Corleone befindet sich das Anwesen des Schäfers Giovanni Marino, ein Haus mit Stall und offenbar unbenutztem Anbau. Hier stellt Marino Ricotta und anderen Käse her. Ein unauffälliger Ort, der dennoch ins Visier der Polizei geriet. Der nämlich fiel auf, dass zwischen einem Anwesen in Corleone, das die Ehefrau eines der am meisten gesuchten Verbrecher Italiens bewohnt, und Marinos Feldhaus regelmäßig ein Kurier verkehrt, der einen weißen Plastikbeutel überbringt.

Am Mittag des 11. April 2006 ist sich die Polizei sicher: Der Beutel ist nicht für den Schäfer bestimmt, im Anbau muss jemand anderer hausen. Die Beamten stürmen das Gebäude - und haben Erfolg. Sie finden - neben einer Olivetti-Schreibmaschine, zwei Bibeln, Hunderten von Madonnen- und Heiligenbildchen und der Filmmusik von "Der Pate. Teil 2" Bernardo Provenzano, den Kopf der sizilianischen Mafia, seit 43 Jahren untergetaucht und vom Versteck aus die Geschicke der Cosa Nostra leitend.

Die Mafia geht weiter

Ist die Verhaftung von "‘U tratturi", des Traktors, wie der wegen seiner brutalen Morde berüchtigte Provenzano auch genannt wurde - der Anfang vom Ende der sizilianischen Mafia? "Viele hoffen das, ich glaube das nicht. Die Mafia ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach für besiegt erklärt worden - und hat sich doch immer wieder neu und besser organisiert, ist größer geworden, schlagkräftiger", sagt der Journalist und Italien-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung", Henning Klüver, der jetzt ein Buch über die Cosa Nostra veröffentlicht hat. Und er ergänzt: "Was wir in den letzten Wochen und Monaten in Palermo beobachten konnten, das ist nicht unbedingt ein Krieg um die Macht, aber es gibt doch eine starke, konfliktreiche Bewegung, die zeigt, dass die Cosa Nostra dabei ist, eine neue Führungsgruppe zu bilden und sich neu zu organisieren. Also, die Mafia ist nicht besiegt, die Mafia geht weiter."

Die Geschichte des Bernardo Provenzano aus Corleone, eines gerissenen, wandlungsfähigen und phantomähnlichen Mafia-Bosses, steht im Mittelpunkt von Henning Klüvers Buch "Der Pate. Letzter Akt. Eine Reise ins Land der Cosa Nostra" - einem Buch, das sich nicht zu dem Optimismus versteigt, im letzten Akt des Paten Provenzano den Schlussvorhang für die Cosa Nostra zu sehen.

Doch Klüver zeigt mehr als eine Porträtstudie. Er liefert einen informativen Überblick über Geschichte und Gegenwart der sizilianischen Mafia, ihre wichtigsten Geschäfte, ihre größten Strippenzieher, ihre blutigsten Vergehen. Er beleuchtet die Verquickung von Wirtschaft, Politik und Kriminalität, referiert jüngste Erfolge der Justiz und würdigt das Engagement der Antimafia-Bewegung.

Illegale Wirtschaftsmacht
Die italienische Mafia erzielt heute einen Umsatz von rund hundert Milliarden Euro im Jahr, das sind 7,5 % des Bruttoinlandsprodukts, ein Drittel davon erwirtschaftet die sizilianische Mafia. Sie macht ihre Geschäfte mit Drogenhandel und illegalem Geldverleih, sie kontrolliert Großschlächtereien und Bauprojekte, verdient an der Abfallentsorgung und am Gesundheitswesen. Und natürlich durch Schutzgelderpressung. Sieben von zehn sizilianischen Händlern zahlen den Pizzo, eine Versicherung gegenüber Sabotage und Vandalismus, die der Cosa Nostra rund zehn Milliarden Euro jährlich einbringt. Wie aber ist dieses System der Mafia entstanden - und wovon hat es profitiert?

Staatsversagen
Jede Mafia in Italien hat ihre eigene Geschichte. Die sizilianische Mafia ist die älteste und die größte, jedenfalls im Inneren am besten organisierte Mafia. Sie entsteht im Umfeld des gesellschaftlichen Wandels der alten Feudalgesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Landbarone verlieren in dem neuen Einheitsstaat ihre vorherrschende Stellung. Es gibt Bauern, die rebellieren, Briganten und Banditen, die rauben und brandschatzen, und es gibt keine vernünftige staatliche Organisation - ein Erbe der Bourbonen-Herrschaft.

Es gibt kaum Leute, die die neuen Institutionen mit Leben erfüllen können. An ihre Stelle treten Personen, die eine gewisse Autorität haben, die dafür sorgen, dass die Bauern ihren Lohn kriegen, aber weiter für die Landbarone arbeiten, die Viehdiebstähle verhindern oder sorgen, dass das Raubgut zurückgegeben wird. Sie haben Beziehungen sowohl zu den Banditen, als auch zu den Bauern und zu den Herren, lassen sich dafür bezahlen und üben notfalls auch Gewalt aus, um ihre Autorität durchzusetzen. So entsteht ein Beziehungssystem mafiöser Strukturen, die den Staat ersetzen, allerdings auf krimineller und privater Basis.

Parallelstaat zur legalen Ordnungsmacht
Die Cosa Nostra, hervorgegangen aus dem "ökonomischen Grundproblem des mezzogiorno", wie Klüver schreibt, der hohen Arbeitslosigkeit, der Armut und mangelnden Bildung, ist längst mehr als ein lokales Gangsterkartell, sie ist "eine Art Parallelstaat zur legalen Ordnungsmacht". Sie ist "geradezu wissenschaftlich organisiert, mit Verbindungen zur Politik", meint der vom Autor interviewte Mafia-Experte Girolamo Lo Verso aus Palermo. Circa 5.000 Personen gehören zum engeren Kreis der sizilianischen Mafia, sie sind die "Ehrenmänner" der Cosa Nostra, die streng hierarchisch organisiert ist, einen strikten Regelkodex kennt und Macht und Autorität über alles stellt. "Besser kommandieren als Sex haben", lautet die Devise.
Die sizilianische Mafia besteht heute aus vielen Familien, allein in Palermo Stadt und Umfeld sind es etwa fünfzig, die mit einem festen Territorium verbunden sind. Die Familie kontrolliert auf ihrem Gebiet alles, den Wohnungsbau, wer welches Geschäft eröffnet, größere Wirtschaftsunternehmen, dafür kassieren sie Steuern, Schutzgeld. Die Familie finanziert damit ihre innere Struktur, kauft sich Waffen, hilft den Mafiosi in den Gefängnissen.

Die Zeiten ändern sich
Doch nicht nur die festen inneren Strukturen, auch die Protektion durch Politiker und einflussreiche Persönlichkeiten, die sich ihrerseits Schutz und materiellen Vorteil durch die Mafia versprachen, waren lange Zeit Garant für Erfolg und Macht der Cosa Nostra. Dass diese Rückschläge einstecken musste, liegt an zweierlei: Zum einen an der erfolgreichen Arbeit unerschrockener Staats-anwälte, von Giovanni Falcone bis Pietro Grasso, an neuen Gesetzen und der Beschlagnahme von Mafia-Besitz. Zum anderen an der Cosa Nostra selbst. Die Blutbäder im Kampf um die Vorherrschaft der Clans machten aus Mafia-Größen Kronzeugen der Anklage. So konnten in den letzten Jahren nicht weniger als 500 sogenannte "Ehrenmänner" hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Der letzte prominente Fang: Salvatore Lo Piccolo, der vermeintliche Nachfolger Provenzanos.

Die Cosa Nostra ist bestenfalls geschwächt, besiegt ist sie noch lange nicht, glaubt Henning Klüver. Für ihn ist Bernardo Provenzano, die Hauptfigur seines Buches, der "letzte Pate einer Epoche, in der die Mafia noch Unterwelt war, und der erste, der sie auf den langen und stillen Marsch durch die Institutionen geschickt hatte". Gerade dieser Wandel der Cosa Nostra - vom Boss-zentrierten Unternehmen zum "kriminellen Föderalismus" - macht den Kampf gegen sie so schwer.

Fundierte Einblicke
Man müsste schon eine Revolution gegen die Mafia "auf kulturellem Niveau" anzetteln, meint Giacomo Ribaudo, Priester von Palermo, dem Klüver am Ende seines Buches das Wort erteilt - eines Buches, das vielleicht nichts aufregend Neues bietet, aber doch einen fundierten, spannend zu lesenden Einblick in die Zusammenhänge einer Organisation. Keine von Wut und Empörung diktierte Insider-Recherche wie die von Roberto Saviano über die Camorra, die zur Zeit die Bestseller-Listen stürmt, sondern ein knapper, sachlicher Report, der nicht nur Provenzano und die anderen Paten der Cosa Nostra in den Fokus rückt, auch deren Gegenspieler und Opfer: den Aktivisten Giuseppe Impastato zum Beispiel, den Unternehmer Libero Grassi oder den Autor Giuseppe Fava. Mutige, die vor der Cosa Nostra nicht in die Knie gingen und ihren Kampf gegen Gewalt und Korruption mit dem Leben bezahlten; die keinen Zweifel daran ließen, dass die sizilianische Mafia nichts weiter ist als ein skrupelloses kriminelles Netzwerk - und nicht die ehrenwerte Gesellschaft, die sie gern sein möchte, furchtlos-coole Revolverhelden wie in den Mafia-Videos, die bei Provenzano und Co. auf den Nachttischen liegen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr#

Buch-Tipp
Henning Klüver, "Der Pate. Letzter Akt. Eine Reise ins Land der Cosa Nostra", Bertelsmann Verlag