Verstanden "im Licht meiner Werte"
Simone de Beauvoir & Jean Paul Sartre
Typisch sei das. Er war der Schürzenjäger und sie die stille Dulderin. Das soll Feminismus gewesen sein? Sie habe gelitten, er habe verführt. Doch was ist wahr an diesem Bild? Schließlich war auch Beauvoir für amouröse Abenteuer zu haben.
8. April 2017, 21:58
"Bei uns beiden, erklärte er mir unter Anwendung seines Lieblingsvokabulars, handelt es sich um eine 'notwendige' Liebe", schreibt Simone de Beauvoir in ihren Memoiren. "Es ist unerlässlich, dass wir auch die 'Zufallsliebe' kennenlernen. Warum sollten wir freiwillig auf die Skala der Überraschungen, der Enttäuschungen, der Sehnsüchte, der Freuden verzichten, die sich uns anboten?"
Streng erzogen
Die Welt ist schlecht, bekam Simone de Beauvoir in ihrem katholischen Elternhaus eingebläut. Ihre Mutter kontrollierte bis zu ihrem 19. Lebensjahr jede Lektüre und alle Briefe. Noch mit 21 war Simone völlig aus der Fassung geraten, als ihr ein Maler ein Aktbild zeigte. Mit 21 bestand sie auch die Aggregation, eine immens schwere Püfung, die zum Philosophieunterricht befähigte. Sie war die Jüngste, die je bestand, und eine der ersten Frauen überhaupt.
Sartre hatte sich sechs Jahre lang auf diese Prüfung vorbereitet, sie nur drei. Nein, sie war nicht seine Schülerin. Als ausgewiesene Leibniz-Spezialistin wurde sie gebeten, sich an gemeinsamen Prüfungsvorbereitungen zu beteiligen. Sartre und Beauvoir, sie begegneten einander von Gleich zu Gleich. "Er verstand mich im Licht meiner Werte, meiner Absichten", so Beauvoir über Sartre.
Offene Beziehung
Geküsst wird erst nach bestandener Prüfung. Und sie ist sich sogleich sicher, dass er niemals mehr aus ihrem Leben verschwinden wird. An einem Oktoberabend des Jahres 1929 handelten die beiden Liebenden, sie war 21, er 24, auf einer Bank vor dem Louvre einen Pakt aus: Eine offene Beziehung wollten sie führen, die Praxis der Liebe wollten sie neu erfinden. Nicht nur durch das Abschütteln aller Ketten, sondern auch durch das Erproben neuer Spielregeln. Typisch: Er wollte sich alles offen halten und was blieb ihr, dem jungen unerfahrenen Mädchen, schon anderes über, als dazu ja zu sagen?
Von Sartres Freunden waren die meisten schon verheiratet, ebenso die Frauen in Simone de Beauvoirs Umfeld. Jean Paul, ganz Kavalier, machte Simone einen Heiratsantrag. Sie war es, die kategorisch ablehnte, sie war es, die darauf bestand, die Bedingungen ihres Zusammenlebens frei zu wählen. Von den einander theoretisch zugestandenen Freiheiten, so kamen sie überein, wollten sie in den nächsten zwei Jahren keinen Gebrauch machen.
Wir schlossen noch einen weiteren Pakt: Weder würden wir einander je belügen noch etwas anderes verbergen.
Keine ewige Treue
In ihren Memoiren hat Simone de Beauvoir erklärt, vieles entschlossen im Dunkeln gelassen zu haben, womit insbesondere erotische Erfahrungen gemeint waren. Andererseits hat sie relativ freizügig über Sartres Affären berichtet. Entstand so ein schiefes Bild vom Draufgänger und der nachsichtig Leidenden? Nach allem, was man über das Liebesleben der beiden Philosophen weiß, kann man davon ausgehen, dass sie es war, die den Vertrag als erste gebrochen hat. Vielleicht mit ein Grund, dass der Pakt im Oktober 1931 erneuert wurde.
Wir schworen uns nicht ewige Treue, aber wir verschoben unsere eventuellen Seitensprünge in die fernen 30er".
Hat sie gelitten oder ihm generös das Animalische zugestanden? Um 1939 herum, nach zehn Jahren Beziehung, dürfte sexuell zwischen Sartre und de Beauvoir nichts mehr gelaufen sein. Haben sie sich so neu verliebt und neu erfunden? Immerhin blieben ihnen noch 40 Jahre Gemeinsamkeit. Simone de Beauvoir in einem Brief an Sartre:
Ich liebe Sie so sehr, mein zarter Kleiner, heftiger denn je. Sie, der mein Leben so schön gemacht hat.
Bürgerliche Moralvorstellungen entsorgt
Wenn man den Menschen neu schaffen will, muss man offenbar einiges an Nachrede einstecken können. Sartre und de Beauvoir waren nicht nur ein offenes, sondern auch ein öffentliches Paar. Role models für Jahrzehnte, in denen die bürgerlichen Moralvorstellungen entsorgt wurden. Ja aber, heißt es dann, sie hat seine Essays und Romane lektoriert und feingeschliffen, und er? Doch wieder eine traditionelle Rollenverteilung, sie dient, er glänzt? Oder hatte er einfach andere Qualitäten? War er vielleicht unschlagbar als Motivator, als Antreiber, als Gesprächspartner? Verstand er es wie kein zweiter, auf sie einzugehen?
Das dürfte es gewesen sein, das sie über alles stellte. Auch über ihre große Liebe zu Nelson Algren. Hunderte Liebeserklärungen schickt sie ihm im Lauf der Jahre, mit ihm erfährt sie, "wie wahrhaft leidenschaftlich die Liebe zwischen Mann und Frau sein kann".
Nelson Algren will Simone de Beauvoir für immer haben. Sie liebt ihn, und kehrt doch zu Sartre zurück, der Hilfe bei einem Drehbuch benötige. Dann kommt der Amerikaner für vier Monate nach Paris, erkennt, wie sehr sie in Paris verwurzelt ist und kehrt zu seiner ersten Frau zurück.
50 Jahre immer neu gefundener Gemeinsamkeit
1950 schreibt Beauvoir an Sartre:
Wir werden ein glückliches Alter haben, mein kleiner Gefährte von 20 Jahren. Ich zähle die Wochen, nicht die Stunden.
Wenig später lernt sie den späteren "Shoah"-Regisseur Claude Lanzmann kennen, 17 Jahre jünger als sie. Er wird der einzige Mann sein, mit dem sie einige Jahre lang zusammenwohnt. Als sich Sartres Gesundheitszustand verschlechtert, erblindet er fast vollständig. Simone de Beauvoir ist zur Stelle. Seine politisch extremistischen Aktivitäten teilt sie.
1979 feiern sie 50 Jahre immer neu gefundener Gemeinsamkeit. Im Jahr darauf stirbt er. In ihren Memoiren schreibt sie:
Sein Tod trennt uns. Mein Tod wird uns nicht wieder vereinen. So ist es nun einmal. Schön ist, dass unsere Leben so lange harmonisch vereint sein konnten.
1986 stirbt auch Simone de Beauvoir. In einem gemeinsamen Grab finden sie ihre letzte Ruhe.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 3. Jänner 2009, 17:05 Uhr
Links
Wikipedia - Simone de Beauvoir
Sartre-Gesellschaft