Neue deutsche Übersetzung
Das Puschkinhaus
Andrej Bitows Roman erschien 1978 erstmals in den USA und brachte dem Autor in der UdSSR prompt ein langjähriges Publikationsverbot ein. Nun liegt eine neue deutsche Übersetzung von "Das Puschkinhaus" vor, inklusive der vom Autor angefügten Kommentare.
8. April 2017, 21:58
Niemand kann sagen, der Autor habe ihn nicht vor diesem Tollhaus gewarnt. Hat er doch den Prolog seines Romans mit Lenins berühmter Frage "Was tun?" überschrieben, um dann im ersten Satz jede Hoffnung auf eine revolutionäre Entwicklung umstandslos zu verabschieden:
Irgendwo gegen Ende des Romans haben wir bereits versucht, jenes saubere Fenster zu beschreiben, jenen eisigen Himmelsblick, der am siebten November, ohne zu blinzeln, auf die Menschenmengen in den Straßen herabstarrte.
Eine Leiche als Held
Anfang und Ende schließt der Erzähler des "Puschkinhauses" kurz und präsentiert zudem eine Leiche als Helden: Ljowa Odojewzew liegt in einem verwüsteten Büro der titelgebenden literaturwissenschaftlichen Petersburger Forschungseinrichtung tot am Boden, in einer Hand die Duellpistole Puschkins. Den Hergang aufklären wird Andrej Bitow erst in der letzten von drei Roman-"Abteilungen".
In der ersten schildert er Ljowas Kindheit und Jugend in den 1950er und 1960er Jahren und wie der Großvater, den Ljowas Familie totgeschwiegen hatte, nach 30 Jahren aus dem Gulag zurückkehrt, seinen Sohn aber nicht sehen will.
Aufgrund des ungeschickten Verhaltens der Eltern, aufgrund dessen, dass sich praktisch unbekannte Menschen mehrfach, quasi zufällig, verplauderten und durch einen unvermittelten Blick in Ljowas Richtung verrieten, trat zutage, dass in dem Drama mit dem Großvater sein Sohn, Ljowas Vater, eine eindeutige und unschöne Rolle gespielt hatte: in seiner Jugend, indem er sich von ihm losgesagt, und 20 Jahre später, indem er sich mit der Kritik an des Vaters Schule dessen Lehrstuhl erarbeitet hatte – so dass der Lehrstuhl noch "warm" war. Dieses Wörtlein hörte Ljowa mit halbem Ohr – wieso warm, wenn 20 Jahre keiner draufsaß?
Die Frauen
Ljowa schluckt es und ersetzt, ein neuer Verrat, den Vater durch den Großvater, obwohl der überlebende Greis bei der ersten und einzigen Begegnung mit dem Enkel Gift und Galle spuckt gegen Fortschritt, Obrigkeitshörigkeit und Epigonalität - und gegen ihre Verkörperung Ljowa. Tatsächlich gibt der Enkel, bedacht auf seinen Vorteil, nach dem Tod des Großvaters dessen wieder hoch angesehene Schriften heraus.
Dass der autoritäre Charakter ebenso sehr idolisiert wie verachtet wird, zeigt dann die zweite Abteilung an Ljowas Beziehungen zu Frauen: Die launische Faina, von dem jungen Literaturwissenschaftler zur großen Liebe stilisiert, entzieht sich, sobald er ihr nahe zu kommen sucht. Ljowa hält sich an Albina schadlos und verachtet die ihn Liebende zugleich für ihre Zugänglichkeit.
Goldenes Zeitalter
Bitows verheerende Charakterisierung der UdSSR kommt karnevalistisch daher. Das goldene Zeitalter der russischen Literatur mit Turgenjew, Lermontow und Puschkin rufen schon die Titel der drei "Puschkinhaus"-Abteilungen an: "Väter und Söhne", "Ein Held unserer Zeit" und "Der elende Reiter" (Letzterer ist eine entmythologisierende Verballhornung des berühmten "ewigen Reiters").
Varianten, Fußnoten, Grafiken und Kommentare brechen die Wirklichkeitsillusion des Romans ironisch auf. Zum rechten Dampfplauderer wird der Erzähler, wenn er Dogmen des sozialistischen Realismus zu Handlung, Erzählperspektiven, Charakteren oder Zeitstrukturen ad absurdum führt. Am Ende taucht niemand anders als der Autor selbst im Roman auf, betritt das Puschkinhaus, registriert befriedigt, wie sehr es der Beschreibung gleicht, und lässt Ljowa durch die Pförtnerin herbeirufen, um seinen Helden "unter Verletzung des guten literarischen Tons" in Augenschein zu nehmen.
Er schaute mich aus großen, ein wenig vorstehenden grauen Augen recht lange an, und ich schlug die Augen nieder. Seine Gesichtszüge waren bar jeder Individualität, obgleich sein Gesicht einzig war in seiner Art und sich keinem gängigen Typus zuschlagen ließ, doch war es – wie sag ich das nur? - für sich schon typisch und gehörte nicht in vollem Umfang sich selbst.
Neue Kommentare
1971 beendete Bitow, damals 34 Jahre alt, den Roman und begann mit dem Kommentar. Dieser fehlte in der nichtautorisierten russischen Ausgabe, die 1978 in den USA erschien und in mehrere Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt wurde, dem recht erfolgreichen Bitow jedoch ein langes Publikationsverbot in der UdSSR eintrug. Erst Ende der 1980er Jahre konnte "Das Puschkinhaus" dort erscheinen.
Rosemarie Tietzes neue Übertragung ist wunderbar quirlig, und sie ergänzt den erstmals übersetzten Kommentar des Öfteren durch eigene kecke Anmerkungen. Das passt gut zum Roman und seinen Abschweifungen, zumal Bitow, der seine Texte immer wieder neu zusammenstellt und fortschreibt, den Kommentar eigens für die deutschsprachige Ausgabe überarbeitet hat.
Parallelen zu heute
Wie stirbt Ljowa nun? Der Wissenschaftler muss während der Revolutionsfeierlichkeiten im Puschkinhaus Wache schieben und erhält unerlaubten, aber zahlreichen Besuch. In einem gewaltigen Trinkgelage sprechen alle selig "wie ein Mann", bis Ljowas Widersacher Mitischatjew ihn als Adligen und Juden beschimpft und sie sich mit Puschkins Pistolen duellieren.
Ljowa stirbt, wird aber bald vom Autor wiedererweckt: Einer muss ja aufräumen. Die Travestie der sozialistischen Gleichheit im Massenwodkarausch und die des fortschrittlichen Bewusstseins im antisemitisch-fremdenfeindlichen Ressentiment lassen an Putins Einiges Russland denken - nur fehlen dort Erzähler und Autor. Man wünschte, das fast 40 Jahre alte "Puschkinhaus" wäre weniger aktuell.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Andrej Bitow, "Das Puschkinhaus", aus dem Russischen übertragen von Rosemarie Tietze, Suhrkamp Verlag