Die Angst vor dem Scheintod
Panikmache im Dienste der Aufklärung
Mitte des 18. Jahrhunderts schwappt eine nie zuvor gesehene Welle der Angst vor dem Scheintod über Europa. Dass man sich ausgerechnet am Höhepunkt der Aufklärung am stärksten davor fürchtet, lebendig begraben zu werden, ist kein Zufall.
8. April 2017, 21:58
"Die Nasenlöcher durch rauhe Federn, Salze, Salmiak, oder die flache Hand und Fußsohlen mit Stichen zu reizen", solche Methoden hätten schon so manchen scheinbar Toten wieder ins Leben gebracht, schreibt Johann Georg Krünitz in seiner "Oeconomischen Encyclopädie" (1773-1858). Ratschläge wie diese verkauften sich gut im 18. Jahrhundert: Nie zuvor und auch nie mehr danach war die Angst davor, lebendig begraben zu werden, so groß wie im Zeitalter der Aufklärung.
"Deutsche und französische Ärzte begannen damals heftige Warnungen auszusprechen, wie schwierig es sei, zwischen Scheintod und dem 'echten Tod' zu unterscheiden", sagt Jeffrey Freedman, Historiker an der Yeshiva University in New York. Noch bis um 1700 hatte das Ende der wahrnehmbaren Herzkreislauffunktionen - also Puls, Herzschlag und Atmung - als sicheres Zeichen des Todes gegolten. Doch als im 18. Jahrhundert die Listen mit ohnmachts- oder komaartigen körperlichen Zuständen, in denen das Leben nur temporär "aufhört", immer länger werden, mehren sich die Zweifel.
Furcht durch Aufklärung
Eine Katalysatorfunktion in der Debatte hat, wie die Historikerin Martina Kessel im Buch "Hirntod. Die Kulturgeschichte der Todesfeststellung" schildert, das Jahr 1740 - jenes Jahr, in dem die erste systematische Abhandlung über die Unsicherheit der Todeszeichen erscheint.
Die breit rezipierte Arbeit des dänischen Anatomen Jacques Bénigne-Winslow tritt eine Welle der Angst vor dem Scheintod los, die von Frankreich über Deutschland bis nach Skandinavien schwappt. Unzählige wissenschaftliche Abhandlungen erscheinen, aber auch zahlreiche Ratgeber, die sich an ein breites Publikum wenden. Die Mediziner, die hier Panikmache im Dienste der Aufklärung betreiben, agieren allerdings nicht ganz uneigennützig.
"Die Ärzte im 18. Jahrhundert hatten noch keine Monopolstellung im Hinblick auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung", erklärt Jeffrey Freedman. "Sie prangerten vor allem 'unwissende alte Weiber' an. Das waren genau jene Personen, die in der Regel den Totenschein ausstellten - schließlich starb im 18. Jahrhundert kaum ein Mensch im Beisein eines Arztes." Auch wenn die Ärzte das nie direkt zum Ausdruck brachten, ist es für Freedman klar, dass die Scheintoddebatte den Medizinern ein willkommenes Mittel war, um Konkurrentinnen abzuwerten. "Sie wollten unterstreichen, dass sie die einzigen seien, die wirklich befugt sind, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden."
Der Kampf um eine Begräbnisreform
Die Mediziner des 18. Jahrhunderts waren überzeugt, dass es nur ein einziges untrügliches Zeichen dafür gäbe, ob jemand tot oder lediglich scheintot sei: die Verwesung der Leiche. Um die Gefahr eines frühzeitigen Begräbnisses endgültig auszuschließen, sprachen sich die Ärzte für eine gesetzlich festgelegte Aufbahrungsfrist von drei Tagen aus - mit Erfolg. In Österreich und Böhmen wurde unter Joseph II. das Begräbnis am Tag des Todes verboten, Preußen und Kursachsen erließen ähnliche Gesetze.
Die neuen Begräbnisvorschriften stürzten jedoch vor allem die jüdischen Gemeinden in ein Dilemma. Denn das jüdische Ritualgesetz schreibt - nicht zuletzt aus Hygienegründen - das Begräbnis bis zum Sonnenuntergang des Sterbetags vor. "Die jüdischen Gemeinden standen vor einer schweren Wahl", sagt Jeffrey Freedman. "Entweder man beugte sich der Autorität des Gesetzes und der Wissenschaft, oder man beugte sich der Autorität der Rabbiner. Das hat jüdische Gemeinden wirklich zerrissen."
Die Furcht verlagert sich
Bereits um das Jahr 1810 herum war die allgemeine Akzeptanz der Begräbnisreform kein Thema mehr, und auch die Furcht vor dem Scheintod nahm ab.
Ganz verschwinden sollte sie allerdings nicht: "Spuren dieser Angst findet man auch im 19. und 20. Jahrhundert, und zwar vor allem im Bereich der Literatur und des Kinos", sagt Jeffrey Freedman. "Ich glaube, sobald man dieser Angst irgendeine Art von ästhetischem Genuss abgewinnen konnte, war diese Angst nicht mehr so mächtig wie zuvor."
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 17. Jänner 2008, 19:05 Uhr
Buch-Tipp
Martina Kessel, "Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert. Körper und Seele zwischen Religion, Magie und Wissenschaft", in: Thomas Schlich, Claudia Wiesemann (Hg.), "Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung", Suhrkamp Verlag
Links
Universität Trier - "Oekonomische Enzykolopädie" online
Yeshiva University - Jeffrey Freedman
IFK - Tagung "Befürchtungen des 18. Jahrhunderts"