Die medial Unsichtbaren - am Beispiel Ungarn
Minderheit und Medienpräsenz
Seit der letzten EU-Erweiterung stellen die Roma die größte Minderheit der Union dar. Medial treten sie bis heute allerdings höchstens in der Kriminalstatistik auf. Ein Mehr an Präsenz in den Massenmedien könnte ein Mehr an Chancengleichheit bedeuten.
8. April 2017, 21:58
Fast 12 Millionen Roma stellen mittlerweile die größte Minderheit in der Europäischen Union dar. Medial bleiben sie bis heute unsichtbar. Die Stereotype des kriminellen "Zigeuners" weicht zwar zunehmend dem Bild der diskriminierten Minderheit, deren kulturelle Identität bewahrt und gestärkt werden soll. Als nationale oder europäische Bürgerinnen und Bürger, die auch abseits der Kriminalstatistik in den Medien erscheinen, gibt es die Roma bislang nicht. Ungarn ist da nur ein Beispiel.
Medial unsichtbar
Minderheitenmedien und -schutz gehören für Ungarn spätestens seit den EU-Beitrittsverhandlungen zum Pflichtprogramm. "Das ist richtig und wichtig, ich glaube aber, das wahre Problem liegt anderswo", sagt Marton Illes, Chefredakteur der Netzzeitung "RomaPage": und zwar beim Ausschluss der Roma aus den Massenmedien. "Vor einigen Jahren startete man versuchsweise eine TV-Serie mit Roma-Protagonisten, setzte sie aber sofort wieder ab, weil sie nicht angenommen wurde," erzählt Illes.
RomaPage, finanziert von der ungarischen Kurt-Lewin-Stiftung, gibt es seit 1997. Anfangs ging es um die Kultur der Roma. Heute, da es Roma-Zeitungen und -Webseiten en masse gibt, konzentriert sich RomaPage auf Analysen, Studien und Reflexionen nationaler Gesellschaften als Lebenskontext der Roma. Zielgruppe sind daher auch nicht primär Roma, sondern "Lehrkräfte, Mediatorinnen und Mediatoren, alle Leute, die sozialarbeiterisch tätig sind", so Marton Illes.
Macht der Massenmedien
Eine bei RomaPage publizierte Studie zum Thema "Medien, Macht und Strategien" (2007) kommt zu dem Ergebnis, dass man "in den heutigen europäischen Medien (...) keine Roma findet. Gelingt es jedoch nicht, diese Bevölkerungsgruppe realitätsgetreuer in den Medien darzustellen, bleibt jedes Ziel von Integration und offener Gesellschaft eine Illusion." Gerade die Massenmedien seien es, die den Menschen die Wirklichkeit ins Wohnzimmer brächten und damit auch ein enormes Veränderungspotential beinhalten würden, so die Studie.
Das bestätigt auch Dániel Vadász vom Roma Press Center in Budapest (RSK), das seit 2001 Journalistenausbildungen für junge Roma anbietet: "Wir gehen davon aus, dass Vorurteile ein Ergebnis von Ignoranz sind. Zeigt man dem Durchschnittsungarn Roma, die im Prinzip genauso leben wie Nicht-Roma, dann rüttelt man nicht nur am Vorurteil, sondern gibt auch gleich positive ‘role models’ für alle Roma."
Und anders herum: Was nicht in den Medien ist, existiert für Menschen nicht. Ein Grund für das Institut, keine eigene Zeitung zu gründen, sondern immer wieder Texte von Roma in den nationalen Medien unterzubringen.
Ungarns größte Minderheit
Roma sind mit 500.000 Menschen Ungarns größte und gleichzeitig die am meisten diskriminierte Minderheit. Wurden die kulturellen Unterschiede während des Kommunismus auch brutal unterdrückt, so gab es doch Arbeit und soziale Absicherung für alle. In den 1990er Jahren gingen diese Arbeitsplätze verloren und die Roma sehen sich heute vor allem von der Mittelschicht stärker diskriminiert: diese fürchtet nämlich verstärkt den eigenen sozialen Abstieg.
Ebenfalls in den 1990ern begann ein ethnisches Revival der Roma. Roma-Medien wurden mit Hilfe von Staat, Stiftungen und EU-Geldern aus dem Boden gestampft, darunter trotz Finanzknappheit erfolgreiche Projekte wie der erste Roma-Sender "Radio C" in Budapest.
Die ungarische Regierung erkannte strukturelle Probleme der Armut und Diskriminierung und setzte diese für den EU-Beitritt auf ihre Prioritätenliste. Bis 2015 läuft die von der Weltbank und dem Open Society Institute organisierte Dekade der Roma zur grenzüberschreitenden Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Minderheit.
Mittlerweile möchte man eigentlich weg von der Ebene der Gruppe: "Es hat keinen Sinn, immer über Minderheiten zu sprechen - wir sehen jetzt eher den Bürger und das Recht des Individuums", so Dániel Vadász vom Roma Press Center in Budapest.
"Für die Menschen ist es nicht gut, wenn sie primär als Roma gesehen werden", sagt auch Marton Illes. Sie sollten in ihren Rollen in der Medizin, der Wissenschaft oder in den Medien wahrgenommen werden, und eben auch Roma sein. Zu diesem Zweck startete 2004 eine staatlich finanzierte "Diversity Database" nach dem Vorbild der BBC mit dem Ziel, eine Liste von Personen mit Roma-Hintergrund, vom Taxifahrer zum Zahnarzt, zu verfassen, die den Medien als Interviewpartner für diverse Themen zur Verfügung stehen.
Erreicht wurde bisher nicht viel, das zeigt auch die Erfahrung des Roma Press Centers. Die Ausbildung junger Roma zu Journalisten beinhaltet auch ein Praktikum bei einem der ungarischen Mainstream-Medien, doch meist bleibt es bei einem Praktikum: "die wenigsten nehmen Roma, insbesondere nicht im Fernsehen," so Vadász.
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