Fast eine Detektivgeschichte

Ein winziger Makel

Nancy Huston lässt in ihrem Roman vier Generationen zu Wort kommen, vier Kinder. Der Autorin ist ein wunderbarer, vielschichtiger und kluger Roman gelungen, der sich mit der Last des familiären Erbes befasst und mit der Wahrnehmung von Kindern.

Mein einziger Makel ist dieses Muttermal an der linken Schläfe. Es ist so groß wie ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück, rund und erhaben, braun und flaumig. Ein winziger Makel, aber der Körper ist ein Tempel und an Solomons Tempel muss der kleinste Makel beseitigt werden, deshalb hat Mom für Juli einen Termin für eine chirurgische Entfernung gemacht. Dad ist ein bisschen dagegen, aber er wird dann wahrscheinlich schon im Irak sein.

Solomon, genannt Sol, ist sechs Jahre alt und wächst in Kalifornien auf. Seine Eltern sind wohlhabend, seine überfürsorgliche Mutter versucht, jeden schädlichen Einfluss von ihrem Sohn fernzuhalten und Sol sieht sich selbst als Mittelpunkt der Welt, als eine Art Gott, dem alles zu gehorchen hat. Aber auch in seiner Kindheit gibt es einige Fragen, auf die er keine Antwort erhält. Woher etwa kommt das Muttermal an seiner Schläfe, das sich nicht entfernen lassen will? Warum ist Grandma Sadie so verbittert und wieso will Urgroßmutter Erra unbedingt zu ihrer Schwester nach Deutschland fahren?

Ein dunkles Familiengeheimnis

Nancy Huston lässt in ihrem Roman vier Generationen zu Wort kommen, vier Kinder, die in unterschiedlichen Zeiten aufwachsen und ganz verschieden auf ihre jeweilige Umwelt reagieren.

"Dieses Buch handelt von Übergängen", meint Nancy Huston im Gespräch mit Irene Binal. "Es ist tatsächlich ein bisschen wie eine Detektivgeschichte konstruiert, denn im letzten Kapitel wird ein wichtiges und dunkles Ereignis enthüllt, aber es soll keine Erklärung dafür liefern, was Kinder heutzutage verderben kann. Man kann eine wunderbare Kindheit haben und zu einem mittelmäßigen, einfach gestrickten Erwachsenen werden. Auf der anderen Seite kann jemand ein schreckliches Kind sein, aber wenn er den richtigen Menschen trifft, eine Frau, die ihn liebt, einen großartigen Lehrer, kann er ein wunderbarer Mensch werden."

Verbunden sind die Generationen durch den "winzigen Makel" des Titels: ein Muttermal. Bei Sol befindet es sich an der Schläfe; bei seinem Vater Randall sitzt es am Halsansatz, bei Großmutter Sadie am Po und bei Urgroßmutter Erra in der Armbeuge.

"Dieses Muttermal steht für unser Bedürfnis, allem einen Sinn zu geben", so Nancy Huston. "Natürlich hat ein Muttermal an sich keine Bedeutung, aber Kinder geben ihm eine Bedeutung. Und die Menschen neigen dazu, allem, was sie sehen, allem, was geschieht, eine Bedeutung zu verleihen. An diesem Muttermal war interessant, dass, je nachdem wie das Leben des jeweiligen Kindes verlief, es eine positive oder negative Bedeutung hatte."

Mit den Augen der Kinder

Beginnend mit Sol im Kalifornien der Gegenwart lässt Nancy Huston die vier Kinder erzählen - und enthüllt dabei Stück für Stück eine wechselhafte Familiengeschichte. Sols Vater Randall zieht als kleiner Junge mit seinen Eltern nach Israel, wo er den Hass zwischen Juden und Arabern plötzlich hautnah miterleben muss.

Randalls Mutter Sadie wiederum versucht, ihrer Existenz zu entfliehen und wird als Erwachsene zum Judentum konvertieren. Ihre schöne Mutter Erra schließlich, eine berühmte Sängerin, erzählt von ihrer Kindheit im Deutschland der Nazi-Zeit, wo sie auf das Geheimnis ihrer eigenen Herkunft stößt - ein Geheimnis, das alle nachfolgenden Generationen auf die eine oder andere Art beeinflusst.

Nancy Huston verleiht den vier Kindern eine glaubwürdige, wenn auch nicht unbedingt immer liebenwerte Stimme: "Ich habe mich wirklich in die Haut dieser Kinder versetzt und ich sah die Welt mit ihren Augen. Ich sah, wie viel Angst Kinder haben können, nicht unbedingt vor physischer Gewalt, aber vor der Tatsache, dass Erwachsene so viel Macht über sie haben, aber dass sie auch oft sehr instabil sind."

Ursachen für Traumata

Bemerkenswert ist auch die Konstruktion des Romans. Durch die Technik, rückwärts zu erzählen, Schritt für Schritt in die Vergangenheit zu gehen, enthüllt Huston nach und nach die Ursachen für die Traumata, unter denen die Familienmitglieder bewusst oder unbewusst leiden und die sie zu den Erwachsenen gemacht haben, die man im vorhergegangenen Abschnitt kennen gelernt hat.

Damit ist Huston ein wunderbarer, vielschichtiger und kluger Roman gelungen, der sich mit der Last des familiären Erbes befasst, mit der Wahrnehmung von Kindern und ihrem Weg zum Erwachsenwerden, und nicht zuletzt mit einem bislang wenig beachteten Aspekt der deutschen Geschichte. Dabei will Huston weder belehren noch aufarbeiten, sie will erzählen und dabei vielleicht den einen oder anderen Leser mit seiner eigenen Familiengeschichte ein klein wenig versöhnen.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 1. Februar 2008, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 3. Februar 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Nancy Huston, "Ein winziger Makel”, aus dem Französischen übersetzt von Uli Aumüller und Claudia Steinitz, Rowohlt Verlag