Ausdrucksform der Lebendigkeit?
Aggression
Aggressivität spielt in vielen kulturellen Ausdrucksformen eine Rolle, im Heavy-Metal ebenso wie im Punk, im Actionkino wie in den Gewaltromanen eines Bret Easton Ellis und vor allem in den revolutionären Exzessen der historischen Avantgarden.
8. April 2017, 21:58
Aggressivität spielt in vielen kulturellen Ausdrucksformen eine Rolle. In der Musik, im Film, im Theater und den revolutionären Exzessen der historischen Avantgarden, die allesamt davon träumten, die überkommenen Kulturtraditionen in einem Wirbelsturm der Innovation hinwegzufegen. Für den Kulturphilosophen Herbert Lachmayer ist Aggressivität ein anderer Ausdruck für Lebendigkeit.
"Das was die Aggressivität ausmacht ist ja das Überbordende, das war bei der Aggressivität sozusagen bedrohlich erscheint, ist, dass sie außer Rand und Band gerät, dass sie in einer Kulturform vorkommt, die das Ausschreiten auch will. Also, das heißt, sie ist eben das Exzessive, das Überbordende das Element, eine Authentizität zu erreichen, die man durch Stilisierungen nicht erreichen kann."
Exzess und Subkultur
Von Elvis Presley, dem Testosteron-Heroen der "Rocking Fifties", bis zu Hardrock und Punk: Aggression im Pop ist immer auch ein Initiationsphänomen, meint der Pop-Theoretiker Fritz Ostermayer.
Das pubertäre Element sei dabei ganz wichtig, denn zunächst seien zum Beispiel Lederjacke und Motorrad männlich codierte Signale. "Rockmusik ist Schwanzmusik, ganz dumm gesagt", meint Ostermayer.
Gewalt und Theater
Kommt, Dämonen, impft mich mit Mordgier. Nehmt mir mein Geschlecht. Füllt mich vom Scheitel bis zur Sohle mit wüster Grausamkeit.
Ein Szenen-Ausschnitt aus Jürgen Goschs umstrittener "Macbeth"-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus. Gosch realisierte Shakespeares Stück als einzigen Mordexzess, als "grauenvolle Tragödie der Vernunftlosigkeit". Da suhlen sich die Schauspieler in Blut und Exkrementen, da wird gemordet und gefurzt und geschissen, dass manch ein Zuschauer erbost den Saal verlässt, da wird "Macbeth" zur Horror-Parabel des Irrsinns.
Aggressive Inszenierungen
Dieser "Macbeth" ist nur eine von vielen unerhört aggressiven Inszenierungen, die neuerdings für hitzige Diskussionen nicht nur in den Feuilletons sorgen. Eine Entwicklung, die Claus Philipp, Kulturchef der Wiener Tageszeitung "Der Standard" mit einer gewissen Skepsis zur Kenntnis nimmt.
"Seit Shakespeares Königsdramen könnte man doch davon ausgehen, dass Gewalt am Theater immer eine gewisse inspirierende Rolle gespielt hat. Mir will nur scheinen, dass das Theater gegenüber den Kino und der Popkultur sich in die Defensive gedrängt fühlt und dadurch - und das macht mich jetzt wieder aggressiv - glaubt Vorgänge wie im Kino abbilden zu müssen, die aber im Kino mehr zu überzeugen verstehen."
"Aggression in der Kunst ist Lebendigkeit"
Der Kulturphilosoph Herbert Lachmayer kann theatralischen Grenzüberschreitungen durchaus etwas abgewinnen. "Die Aggressivität in der Kunst ist eigentlich ein Aufwachen, ein Aufwachenlassen. Das heißt: Aggressivität ist sozusagen eine produktive Energie, eine Energie, dem Publikum zu zeigen, dass es etwas gibt, das die Sublimation unter Umständen außer Kurs setzt."
Eine bürgerschreckhaft-aggressive Attitüde pflegten auch die großen avantgardistischen Bewegungen - vom Futurismus bis zum russischen Konstruktivismus, vom Wiener Aktionismus bis zu den provokatorischen Exzessen eines Pierre Boulez, der 1967 mit dem Schlachtruf "Sprengt alle Opernhäuser in die Luft" so etwas wie einen revolutionären Kulturkampf zu entfachen suchte.
Zeitlich begrenztes Phänomen
Herbert Lachmayers Einschätzung zufolge wollten und wollen avantgardistische Bilderstürmer, indem sie sich selbst aggressiv gebärden, vor allem die Aggressionen der von ihnen verachteten Spießer hervorrufen. Das Problem der Avantgarden: Man kann den revolutionären Furor nur für einige Zeit aufrechterhalten, dann laufen die anfangs so erfrischenden Aggressions-Exzesse rasch ins Leere.
"Das wäre wie das Rufzeichen, das in regelmäßiger Reihenfolge immer dann wieder auftaucht, wenn man mit den Punkten nicht mehr das Auslangen findet", meint "Standard"-Kulturchef Claus Philipp.
Er meint, dass aggressive Kunstformen, von Punk und Hardrock bis zu den verschiedensten avantgardistischen, aktionistischen Bewegungen, immer wieder Raum schaffen für andere ruhigere Artikulationsformen. "Man kann die Aggressivität nicht künstlich aufrechterhalten, weil das Rufzeichen so schick geworden ist."
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 4. Februar bis Donnerstag, 7. Februar 2008, 9:05 Uhr