Wenn die Kriegsvergangenheit ans Licht kommt

Schlaf nun selig und süß

Wie in einem Krimi deckt Pierre Péju in seinem Roman die Kriegsvergangenheit einer Familie auf. Der Text ist spannend und mitreißend, kunstvoll gewebt und voller versteckter Motive und Anmerkungen, die sich vielfach erst beim zweiten Lesen erschließen.

Hier auf Kehlsteiner Boden beginne ich mich zu verändern. Ich möchte... Ich möchte weiter zeichnen, Ungeheuer und Wunder malen, möchte lesen, schreiben, entdecken! Ich möchte... Verantwortung übernehmen für die Vergangenheit mit ihren Tragödien, ihrem Grauen, ihren Rätseln. Und Rock tanzen! Warum auch nicht? Schlagzeug spielen! Und neue Kunstwerke erschaffen, Filme drehen, meine Arme den sich wandelnden Zeiten öffnen... Und... ja, ich möchte Clara umarmen!

Ein Ferienaufenthalt in Deutschland wird für den 16-jährigen Paul aus Frankreich zum Wendepunkt in seinem Leben. Denn im kleinen, scheinbar idyllischen Dorf Kehlstein irgendwo in Bayern ist auch im Jahr 1963 die Kriegsvergangenheit noch sehr lebendig. Das Mädchen Clara bringt Paul auf die Spur der düsteren Ereignisse, sie erzählt ihm von einem Mann, der lang nach dem Krieg seine beiden Kinder im Wald umbrachte, und davon, dass ihr eigener Vater immer frische Rosen an den Ort des Verbrechens bringt. Paul beginnt, sich für dieses Rätsel zu interessieren, er forscht nach, getrieben von der neugierigen und eifrigen Clara, und gerät immer tiefer in eine düstere Geschichte, in der es um Schuld geht aber auch um die Frage, wie man mit dieser Schuld umgehen kann.

Neugieriges Mädchen

Als Paul nach Frankreich zurückkehrt, lässt ihn die Erinnerung an Kehlstein nicht mehr los, denn auch seine eigene Familie hat ihre Geheimnisse. Sein Vater, ein aktives Mitglied der Resistance, wurde lang nach Kriegsende im Jardin du Luxembourg ermordet und dieser ungeklärte Mord überschattet Pauls Leben. Dann taucht plötzlich Clara in Paris auf und hat nichts von ihrer Neugier verloren. Sie ist es, die Paul immer wieder mit neuen Fragen konfrontiert, und die ihm immer wieder neue Wahrheiten eröffnet.

"Für mich ist Clara ein Symbol für die Unruhe, für die Sorge - ich liebe dieses deutsche Wort "die Sorge" -, die einen dazu bringt, dass man die Gegenwart nicht einfach hinnimmt, sondern dass man sich mit der Vergangenheit beschäftigt und dort, auf einer moralischeren Ebene, auch mit dem Bösen", erklärt Pierre Péju im Gespräch mit Irene Binal. "Clara steht für diese Unruhe. Darum kommt sie und verschwindet wieder, wie auch die Sorgen kommen, sich entfernen und wieder kommen."

Mit dem Bösen konfrontiert

Nicht zuletzt die Frage nach dem Bösen ist es, der der Philosophiedozent Pierre Péju in seinem Roman "Schlaf nun selig und süß" nachgeht. Paul wird durch Clara immer wieder mit dem Bösen konfrontiert, das in der Vergangenheit lauert - mit der Geschichte zweier deutscher Männer, die in die Ermordung unzähliger jüdischer Frauen und Kinder verstrickt waren, aber auch mit der Geschichte seiner Familie.

Aber Paul und Clara entdecken im Lauf der Jahre, dass es im Krieg nicht immer einfach ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dass Schwarz und Weiß einander überlappen können. Für Pierre Péju ist die Frage nach der Qualität des Bösen einer der zentralen Aspekte seines Buches: "Es geht um die Frage nach der Banalität des Bösen, genauer: um die Tatsache, dass das Schlimmste, also die massenhafte Vernichtung der Individuen, von ganz normalen Menschen vollbracht wurde, und dass dies in der Masse zu einer Lawine wurde, zu etwas Grauenvollem."

Der Lauf der Zeit

Wie in einem Krimi deckt Pierre Péju Schicht um Schicht auf, während seine Protagonisten erwachsen werden und ihre eigenen Lebensentwürfe verfolgen. Paul bleibt der Kunst treu und macht sich einen Namen als Bildhauer, Clara eilt als Fotografin von einem Kriegsschauplatz zum nächsten. Kunstvoll versteht es Péju, den Lauf der Zeit zu verdeutlichen, auch wenn er selbst gerade diesen Aspekt als besondere Herausforderung empfunden hat.

"Das Schwierigste war zweifellos, das Vergehen der Zeit zu zeigen", so Péju. "Alles musste in der Vergangenheit angesiedelt werden, gleichzeitig bewegt sich die Zeit in Richtung Gegenwart. Da geht es um die Zeit der Hungersnot in der Ukraine 1920 bis 1932, es gibt Szenen aus dem Mai 1968, Szenen aus den 1980er Jahren und so weiter, und ich musste deutlich machen, dass die Figuren so und so alt sind und sich so und so entwickelt haben. Man sieht sie altern, man sieht Clara zu einer unruhigen Frau werden, man sieht, wie sie trinkt, wie sie sie zunimmt... Und man spürt den Lauf der Zeit."

Ein kluges Buch

Der philosophische Hintergrund soll aber nicht täuschen: Pierre Péjus Roman ist spannend und mitreißend, kunstvoll gewebt und voller versteckter Motive und Anmerkungen, die sich vielfach erst beim zweiten Lesen erschließen. Ein kluges Buch, das fesselt und berührt und das seine Botschaft auf unaufdringliche, aber trotzdem nachhaltige Weise zu vermitteln versteht.

Was ich mir wünschte, als ich dieses Buch schrieb, war, dass die Menschen, die in einem wirklichen Frieden leben, die frei sprechen können, die fortgehen können, das nicht als selbstverständlich betrachten", hofft Péju. "Und dass es immer eine Sorge um diese Freiheit geben muss, denn ein klares Bewusstsein braucht diese Sorge, ob es nun darum geht, was vorher passiert ist, oder darum, was anderswo in der Welt geschieht."

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 10. Februar 2008, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Pierre Péju, "Schlaf nun selig und süß”, aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth Ranke, Piper Verlag