Wie der Staat mit der familiären Unterstützung rechnet
Verwandtschaft als Ressource
Familiäre Netzwerke zu nutzen, dem haftet gemeinhin der Hautgout des Nepotismus an. Gerade das Beispiel Migration zeigt jedoch, dass viele Lebensbereiche ohne Verwandtschaftsnetze gar nicht funktionieren würden - und dass der Staat mit ihnen rechnet.
8. April 2017, 21:58
Verwandtschaft war gestern. So lautete das harsche Urteil zahlreicher Intellektueller im 19. Jahrhundert, die überzeugt waren, dass man das gesellschaftliche Organisationsprinzip Verwandtschaft getrost aus der Geschichtsschreibung verabschieden könne. Denn mit der Modernisierung und der wachsenden Bedeutung des Staates in der Neuzeit würden Verwandtschaftsverbände bestenfalls noch private, aber keinerlei politische Funktion mehr erfüllen.
Auf Basis neuerer Forschungen zeichnet sich jedoch ein differenzierteres Bild ab - sowohl für die Geschichte als auch für die Gegenwart. Verwandtschaftliche Netze bleiben durchgängig wichtig, ob als soziale Beziehungsnetze in schwierigen oder neuen Lebenssituationen, oder für das Erreichen sozialer und politischer Positionen. Und: der Staat, der ursprünglich angetreten ist, "Vetternwirtschaft" durch "rationalere" Formen der Politik zu ersetzen, rechnet mit ihrem Funktionieren - ob in der Kinderbetreuung, im Pflegebereich oder bei der Zuwanderung.
Verwandtschaft als Motivator
"Bereits in der Ausgangsregion nehmen Verwandtschaftsverhältnisse darauf Einfluss, wer migriert und wer wohin migriert", sagt Annemarie Steidl, Hertha-Firnberg-Stipendiatin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. "Sobald sich einmal bestimmte Migrationsrouten etabliert haben, bilden sich dann auch am Zielort verwandtschaftliche Netzwerke heraus, die Nachkommende bei der Ankunft unterstützen - ob bei der Findung von Unterkunft oder bei der Jobsuche."
Annemarie Steidl hat sich auf die Spurensuche nach den Verwandtschaftsbeziehungen jener drei Millionen Menschen gemacht, die zwischen 1880 und 1914 die Habsburgermonarchie in Richtung USA verlassen haben. Als hilfreiche Quelle haben sich dabei die Passagierlisten der Auswandererschiffe erwiesen: Da Migrationswillige bei der Ausreise gezwungen waren, detaillierte Auskünfte über ihre Verwandten und Kontaktpersonen am Ausgangs- und Zielort ihrer Reise zu geben, lassen sich über diese Listen sehr gut familiäre Netzwerke rekonstruieren.
Verwandtschaft als staatliche Bedingung für Migration
Dass man Kontaktpersonen angeben kann, wird ab 1885 zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die Migration in die USA. In diesem Jahr verabschiedet die US-amerikanische Regierung auf Druck der Gewerkschaften, die Lohndumping durch die europäische Konkurrenz am Arbeitsmarkt fürchten, das so genannte "Contract Labour Law." Dieses verbietet den Migrantinnen und Migranten, bereits vor ihrer Ankunft in den USA einen Arbeitsvertrag mit einem amerikanischen Unternehmen abzuschließen.
Mehrere hunderttausend Neuankömmlinge pro Jahr kommen damit ohne Arbeit ins Land, was für die Regierung, so Annemarie Steidl, ein erhebliches sicherheitspolitisches und soziales Risiko bedeutet: "Für den Staat wird es immer wichtiger, abzufragen, ob diese Migrantinnen und Migrantenbereits bereits ein soziales Netz haben, auf dem sie aufbauen können, um dem Staat nicht als Unterstützungswürdige auf der Tasche zu liegen."
Eine soziale Frage
Der US-amerikanische Staat macht also um 1900 Verwandtschaft gleichsam zur Bedingung für die Einwanderung. Auch in den Migrationsprozessen der Gegenwart ist es häufig das verwandtschaftliche Netz, das darüber entscheidet, ob man überhaupt migrieren kann, wohin man migrieren kann und wie gut der Start im neuen Land gelingt.
"Man braucht sich nur einmal anschauen, wie oft in dasselbe Haus in Wien namensgleiche Familienangehörige aus Serbien oder der Türkei nachziehen", sagt der Wiener Sozialhistoriker Michael Mitterauer. "Hier wohnt man also zunächst miteinander; später sucht man sich dann eine Wohnung in der Nachbarschaft." Dass Migrantinnen und Migranten landsmannschaftliche Kommunitäten auf der Basis von Verwandtschaft bilden, sei vor allem für die Wanderung ärmerer Bevölkerungsschichten wichtig: "Ein Manager, der zu einer großen Firma nach Deutschland geholt wird, braucht keine Verwandten, die ihn aufnehmen. Der türkische oder serbische Zuwanderer, der nach Wien kommt, braucht jedoch diese Kontakte, und diese spielen auch beim Fuß Fassen im neuen Milieu eine wichtige Rolle."
Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 30. Dezember 2008, 19:05 Uhr
Buch-Tipp
Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hg.), "Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht", V&R unipress