Unzüchtiges in der Londoner U-Bahn
Feigenblätter und Naturgesetze
Die Berliner behaupten ja, das Wort "Berlin" stamme vom edlen "Bären" ab. Das ist nachweislich falsch. "Berlin" kommt von slawisch "Berl", und das heißt "Sumpf". Sonstige News: ein wenig Galilei, ein Hauch Londoner U-Bahn.
8. April 2017, 21:58
Als Wanderer zwischen den Welten darf ich hier ausnahmsweise Werbung in eigener Sache machen: Letztens habe ich ein Buch geschrieben. Mit Kultur im engeren Sinn hat es nichts zu tun, im weiteren Sinn aber schon, es handelt von Physik; ist, wie man so sagt, populärwissenschaftliche Lektüre.
Viele Philosophen versichern uns ja, dass die gesamte moderne Physik und Naturwissenschaft auch nur eine Erzählung sei. Ein einziger großer Roman, der lediglich ein paar speziellen dramaturgischen Regeln folge, wie etwa der: Das Erzählte sollte empirisch - also durch "Hinsehen" - "falsifizierbar" sein. Was immer das im Detail heißen mag. Sicher ist ja: Wirklich gesehen hat die ganzen Quarks, Schwarzen Löcher, Dunklen Energien, Urknalls und das komplette verbogene Raum-Zeit-Kontinuum, das unser Universum ausmacht, ja noch kaum jemand.
Immerhin kann man sagen: Wenn ich hier auf meinem Laptop, zu Recht "Schlepptop" genannt, diesen Text tippsle und ihn anschließend per Breitband an die zuständige Redakteurin emailen werde, nutze ich ja all die modernen Erkenntnisse. Das Zeug funktioniert also, das ist schon was. Wenn auch Papier und Schreibkiel, wie man sie früher gebrauchte, leichter zu tragen waren.
Und schon der große Galilei, der erste Romancier in Sachen Naturwissenschaften und Erfinder des Genres, meinte ja: "Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben." So habe ich, begeisterter Leser seit jeher, auch ein wenig in jenem Buch geschmökert. Das Ergebnis können Sie aktuell im Buchhandel erwerben, es betitelt sich "Die berühmtesten Formeln der Welt... Und wie man habe Sie versteht".
Ansonsten gibt's im Kulturbetrieb wenig Neues. In Berlin findet gerade die Berlinale statt. Zum 58. Mal geht dieses Filmfestival schon vonstatten, und ich bin ein strikter Gegner solcher Fortsetzungs-Events. Ich frage Sie: Was kann dort beim 58. Mal zu erwarten sein, was man bei den ersten 57 Malen versäumt hat? - Richtig, nichts. Es ist genau so, wie immer. Preise werden vergeben, in diesem Fall Bären, daneben noch Jury-, Spezial- und Publikumspreise, damit auch niemand leer ausgehe, der das vielleicht nicht verdient hat. Zwischendurch sind die immer gleichen roten Teppiche aus den Vor- und Vorvorjahren zu sehen. Langweilig.
Nun gut, die Geschmäcker sind verschieden. Manche Leute lieben ja die Monotonie, für diese Menschen macht man zum 58. Mal Berlinale. Ich liebe eher die Abwechslung. Deshalb meine grundsätzlichen Vorbehalte gegen serielle Ereignisse solcher Art. Büchner fällt mir bei solchen Gelegenheiten immer ein, der Dramatiker Georg Büchner, der seinen Danton im gleichnamigen Stück sagen lässt (sinngemäß): Das täglich wiederkehrende Anziehen der Hosen, jahraus, jahrein, jeden Morgen das Gleiche, fadisiere ihn schon derartig, dass er darob lebensmüde werden könnte.
Die einzigen echten News in Sachen Kultur liefern ausgerechnet die Londoner Verkehrsbetriebe. Ich weiß nicht, ob sie das mitbekommen haben: In der Royal Academy of Arts soll demnächst Lucas Cranach der Ältere groß ausgestellt werden. Als Motiv für das zugehörige Werbeplakat wählte die Academy Cranachs berühmte "Venus", ein Bild, auf dem die Göttin der Liebe recht spärlich bekleidet ist. Wie sonst, wenn's doch um Liebe geht? Bloß eine Halskette und ein Band im blonden Haar schmücken die Schöne. Die allerdings für aktuelle Geschmäcker, im Zeitalter des Solariums, ein wenig blaß geraten scheint. Ich wage zu behaupten: Ein Marketingleiter eines heutigen Unterwäscheproduzenten würde den Werbefotografen, der ihm solches liefert, umgehend feuern.
Was um das Jahr 1530, dem der Entstehung des berühmten Gemäldes, offenbar niemanden aufregte, ist den drei Millionen täglichen Benutzern der London Underground jedenfalls nicht zuzumuten, entschieden die britischen Verkehrsbetreiber. "Millionen Männer, Frauen und Kinder haben keine Wahl, als das anzuschauen, was sie auf dem Gelände der U-Bahn zu sehen bekommen", begründeten sie das Verbot. Sehr elegant. Irgendwer hat doch mal gesagt: Die höchste Form der Philosophie ist die Tautologie.
Jedenfalls, solche Pressemitteilungen liebe ich, wie Sie verstehen müssen. Da ist man als Glossist nicht mehr genötigt, sich etwas auszudenken, da schreibt man einfach ab.
PS / Letzte Meldung: Nach zahlreichen Interventionen und dem "Angebot" der Ausstellungsmacher, Cranachs Venus an den fragwürdigen Stellen mit Feigenblättern zu versehen, darf die Göttin möglicherweise nun doch in den U-Bahnschächten hängen. Ohne Feigenblatt.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 18. Februar bis Donnerstag, 21. Februar 2008, 9:30 Uhr
Buch-Tipp
Thomas Schaller: "Die berühmtesten Formeln der Welt... Und wie man Sie versteht", Ecowin-Verlag