Geschichte eines tragischen Möchtegern-Helden

Die Wohlgesinnten

Jonathan Littells umstrittener Roman "Die Wohlgesinnten" hat in Frankreich für heftige Kontroversen gesorgt. Littell schildert die Zeit der Nazigräuel aus der Perspektive eines SS-Offiziers, der sich selbst als tragischen Helden sieht.

Der deutschsprachige Wirbel um eines der sicherlich spektakulärsten Prosawerke seit Langem wird den französischen vermutlich noch übertreffen, und all das wäre unzweifelhaft sehr gut so: Wenn nicht - hier wie dort - ein Großteil dieser Aufmerksamkeit auf Missverständnissen beruhen würde.

SS-Hauptsturmführer Max Aue

Nachdem seine Geschichte die längste Zeit ein gut gehütetes Geheimnis gewesen war und notwendiger Grundpfeiler seiner unbescholtenen bürgerlichen Existenz, die er nach 1945 unerkannt in Nordfrankreich verbracht hatte, entschließt sich der SS-Hauptsturmführer Max Aue über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dazu, reinen Tisch zu machen: nicht um die Geschichtsforschung mit Zeitzeugenaussagen zu bereichern, sondern um sich als maßgeblichen Akteur der deutschen Angriffskriege und Vernichtungsfeldzüge in Richtung Osteuropa zu enttarnen.

Wir folgen Aue, seiner Einheit und der Wehrmacht über die Ukraine bis in den Kaukasus und folgen einer Spur grotesker Blutgier und Brutalität. Die Kameraden lassen sich von etwaigen Skrupeln kaum aus der Ruhe bringen. Es wird jederzeit erstklassig gegessen und getrunken, laut gesungen, wild getanzt, man besichtigt ehrfürchtig die Sehenswürdigkeiten und Schönheiten der Umgebung, liest Lermontow und Tschechow, brennt Dörfer nieder und erschießt kleine Kinder nach Lust und Laune, unterhält sich auf Französisch, Altgriechisch und Latein, trinkt extra herbeigeschafften Bordeaux, diskutiert die Rassezugehörigkeiten der russischen Bergvölker, um zu pseudowissenschaftlichen Entscheidung über deren Lebensberechtigung zu gelangen, und geht all dem mit einer Gelassenheit nach, die formal an einen Volkshochschulkurs erinnert – tatsächlich aber überhaupt die Bestialität dieses deutschen Feldzuges vielleicht zum ersten Mal nur annähernd fassbar werden lässt.

Aue will keine Rücksicht auf sich nehmen und schonungslos berichten. Er scheitert in beidem und schildert sich als Mensch unter Massenmördern. Als einen jedoch, der immer Zweifel gehabt habe an der Notwendigkeit ihrer Brutalität.

Seltene literarische Täterperspektive

Anzahl und formale Vielfalt der bisherigen Darstellungs- und Erklärungsansätze der Shoah sind längst unbestimmbar geworden und die Augen- und Zeitzeugenberichte so zahllos wie die Bemühungen, die letzten verklingenden Stimmen zu konservieren. - "Die Wohlgesinnten" ist eine Besonderheit, weil es eine der ganz seltenen literarischen Täterperspektiven auf die deutsche Mordlust ist.

Lautstärke und Schärfe der Einwände gegen dieses gut 1.400 Seiten starke Buch deuten darauf hin, dass genau hier das Problem liegt. Claude Lanzmanns inzwischen berühmt gewordene Worte spitzen die Kritik an Littells Ansatz zu: Niemals würden die Henker freiwillig erinnern, so Lanzmann, sie würden auch nicht erinnert werden wollen, sondern nichts als verdrängen.

Fiktive Autobiografie

Seit einigen Wochen grübelt man nun in Deutschland: "Ist das der Täter? Erklärt Aues Biografie, was uns bis heute unerklärlich scheint?", fragt sich zum Beispiel die "FAZ" und zeigt dabei unfreiwillig auf, woran die bisherige kritische Rezeption krankt: "Die Wohlgesinnten" ist keine Biografie, sondern unübersehbar eine fiktive Autobiografie.

Der Autobiograf ist ein naturgemäß unzuverlässiger, wenn nicht von Vornherein unglaubwürdiger Erzähler. Tatsächlich gibt es überhaupt gar keinen subjektiveren, und eben deshalb erklärt Aues Bericht natürlich rein gar nichts, erst recht nichts Unerklärliches.

Aue behauptet, die Wahrheit zu schildern, warum sollte man ihm glauben? Wir haben keinen Zugriff auf andere Perspektiven als die seine und noch jedes Detail im Leben des vermeintlich guten SS-Manns Max Aue - gerade seine angeblichen Skrupel und Heldentaten - schreit geradezu danach, ihm zu misstrauen. Die "Wohlgesinnten" ist kein vom Autor behaupteter Tatsachenbericht, sondern fiktive Oral history, der mit angemessener quellenkritischer Skepsis begegnet werden muss.

Den Täter geschickt bloß gestellt

Jonathan Littell wird haftbar gemacht für das, was er jemanden sagen lässt, der sich schon allein durch seine Geschichte als offenkundig unzurechnungsfähig erweist. Nicht Littell sucht danach, Empathie für die Falschen zu erzeugen und somit böswillig zu verharmlosen, sondern Max Aue, und damit richtig umzugehen, bleibt allein den Lesenden überlassen.

Gechickter kann man diesen Täter kaum bloß stellen. Dabei hätte es wenig verwundert, wäre "Die Wohlgesinnten" nichts als ein weiterer, mehr oder weniger offensichtlich scheiternder Versuch eines Nachgeborenen geworden, das Unbeschreibbare zu ästhetisieren. Stattdessen lässt sich anstelle einer Antwort auf die Frage, ob das Buch denn nun eigentlich überhaupt gut ist, nur noch viel lauter singen als es bereits der Verlag getan hat: "Die Wohlgesinnten" ist nicht der literarische Höhepunkt dieses Frühjahrs, sondern des ganzen Jahres. Oder noch darüber hinaus?

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Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Jonathan Littell, "Die Wohlgesinnten", Berlin Verlag