Als Ski-Vieh beim längsten Langlaufrennen
Men in Tights
Das Kitzbühel Skandinaviens: 90 Kilometer langlaufen. Neuneinhalb Stunden schieben. Mehr als 15.000 Starter. 11.000 im Ziel des längsten Rennens seiner Art. Als Ski-Vieh in engen Beinkleidern auf den Spuren von König Wasa. Nun heimgekehrt. Müde.
8. April 2017, 21:58
Da steh ich nun, heimgekehrt mit müden Muskeln und frage mich: Warum? Wozu? 90 Kilometer langlaufen in einem Stück. Von Sälen nach Mora, irgendwo in Schweden, weit hinter Borlänge, Leksand und Sandviken.
Die Dänen sind schuld. Weil die schnellsten Skiläufer Moras im Jahr 1521 den vor den Dänen flüchtenden Gustav Wasa nach 90 Kilometern eingeholt haben (wahrscheinlich hatte er das falsche Gleitwachs) kam 400 Jahre später ein irrer Journalist auf die Idee, den Lauf zu wiederholen. 119 Langläufer machten 1922 mit. Heuer über 15.000. Und ich mittendrin.
Es zischt und kracht, knirscht und schrammt. Ein gewaltiges Heer, bewaffnet mit 30.000 dünnen Speeren, schiebt sich über die Startlinie. Das macht Angst. Vorwärts, kein Zurück.
Das Ski-Vieh drängt zur ersten Steigung. Stau. Zeit für Smalltalk. Man wartet und stochert sich vorwärts, den Hang hinauf. Das Knacken und Krachen wird lauter. Abgebrochene Stock-Enden liegen als Stolperfallen im Schnee. Am Ende der ersten Steigung halten Helfer große Bündel Ersatzstecken bereit. Sanitäter verarzten einen Gestürzten. Am Loipenrand hält einer seinen gebrochenen Ski in die Luft. Ein Schwede rammt mir seinen Stock ins Bein. Tack!
Kilometer 3. Der Puls steigt beim Raufstelzen. Entschärft wird diese Engstelle absichtlich nicht. Das langsame Starten soll Herzinfarkte verhindern. Bei meinem letzten Antreten 2005 starben drei Läufer.
Kilometer 30. Ein Läufer mit Wikingerhelm fällt mir ungut auf. Er skatet. Betrug!
Kilometer 47. Dicker Blaubeersaft bei der Labestation. Man kennt schon den Sieger: Jörgen Aukland, vier Stunden, dreizehn Minuten. Für die Tausenden hinter ihm gibt es keine gespurte Loipe mehr, nur eine hart gepresste Buckelpiste.
Kilometer 50. Erster Sturz. Die Knöchel schmerzen. Die Hörner des Wikingers immer noch in Sichtweite. Vor mir zwei Männer auf einem Paar Tandem-Ski.
Kilometer 60. Nur mehr 30 Kilometer! Nur mehr? Wieso mach ich das eigentlich? Kann kaum mehr die Arme heben. Hunderte überholen mich. Und der Wikinger mit der Nummer 8763 skatet noch immer vor meiner Nase herum. Zweiter Sturz.
Kilometer 70. Ich laufe hinter einem Veteranen. Ein Veteran war mindestens 30 Mal beim Vasaloppet dabei. Man erkennt ihn an der orangen Startnummer und an seinen Bewegungen. Der Veteran hat einen schlabberigen Flanelltrainingsanzug unbestimmbarer Farbe an. Er bewegt sich so langsam, dass ich mich wundere, wieso ich ihn erst jetzt überhole. Das ist das Veteranen-Geheimnis: Langsam und stetig. Man lernt fürs Leben beim Wasalauf.
Kilometer 80. Der Wikinger ist mir inzwischen vollkommen egal. Soll er skaten. Es gibt nur den nächsten Stockschub und den übernächsten. Vielleicht ist es das. Dieser Zustand. Der Grund, weshalb so viele wiederkehren. Einfach tun. Sonst nichts. Kein anderer Gedanke. Nur sein.
Kilometer 83. Eine freiwillige Helferin schiebt mir lachend eine Orangenspalte in den Mund.
Kilometer 86. Ich sehe die Kirchturmspitze von Mora. Anfeuerungsrufe der Zuschauer. Musikbands am Loipenrand. Der letzte Kilometer ist mit Fackeln beleuchtet.
Ziellinie. Neun Stunden, fünfundzwanzig Minuten. Körpereigene Drogenausschüttung, Glücksgefühle? Spüre ich nicht. Nur die Dankbarkeit, es geschafft zu haben. Danke, Dänen. Danke, König Wasa. Bis nächstes Jahr.
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Vasaloppet