Mit psychologischem Spürsinn
Die Leiden eines Amerikaners
Mit dem Kunstgriff eines männlichen Erzählers hat Siri Hustved in ihrem neuen Roman den Versuch unternommen, sich die eigene Geschichte vom Leib zu halten und ein wenig Familienballast abzuwerfen. Das Buch punktet durch psychologischen Spürsinn.
8. April 2017, 21:58
Wenn bei Thomas Bernhard der Held zum Begräbnis seiner Eltern ins Haus seiner Kindheit anreist, dann hat er die Auslöschung des Vergangenen im Sinn, die endgültige Trennung vom emotionalen Marschgepäck, das man ihm in Kindertagen aufgebürdet hat. Wenn bei Siri Hustvedt der Protagonist zur Einäscherung seines toten Vaters von New York in sein Elternhaus nach Minnesota fährt, dann geht es um das Gegenteil: um ein Abrufen der Erinnerung, ein Komplettieren des Bildes, darum, das Gespräch über das Grab hinaus fortzusetzen.
Die Geister in uns
Erik Davidsen, der Ich-Erzähler, ist Psychiater, geschieden und kinderlos. Ihm fällt ein, dass Auguste Comte das Gehirn eine "Vorrichtung" genannt hat, "mit der die Toten auf die Lebenden einwirken." Und er muss daran denken, was eine Patientin ihm über die Geister erzählt hat, die sie manchmal höre und manchmal nicht. Der Arzt erlebt nun Ähnliches.
Wir haben alle Geister in uns, und es ist besser, wenn sie reden, als wenn sie es nicht tun.
Eriks schöne, kluge, auch nicht mehr junge Schwester Inga prägte im Rückblick das Wort vom "Jahr der Geheimnisse". Es ist das Verdienst der Autorin, dass diese Geheimnisse hier nicht nach Krimiart gelüftet werden, dass das, was wir im Laufe der Geschichte erfahren, eher beiläufig ans Licht kommt und die Dinge nicht auf den Kopf stellt. Für die Nachforschungen, die Bruder und Schwester anstellen, gilt die Maxime "Der Weg ist das Ziel".
Der Flüchtende und der Schwierige
Es sind gleich zwei bedeutende Männer, die als Tote überlebensgroß in das Dasein ihrer Hinterbliebenen ragen: Lars Davidsen, der Vater der beiden Geschwister, Nachfahre norwegischer Einwanderer und ein bekannter Wissenschaftler, und Max Blaustein, Ingas fünf Jahre zuvor an Magenkrebs verstorbener Ehemann und Vater ihrer Tochter Sonia, ein großer Bonvivant und gefeierter Schriftsteller.
Ingas Vater erschien allen als ein guter, ein allzu guter Mensch, der ab und zu, wenn er unter großem Druck stand, auf und davon ging, in die Nacht hineinmarschierte, ohne sich später daran zu erinnern - Fugue, Flucht, heißt der psychiatrische Fachausdruck dafür. Ihm gegenüber steht Ingas Mann Max, der Schwierige, der Mann des Exzesses, der alles überstrahlende Gefährte, dem zuliebe die selbst schreibende Philosophin Inga die zweite Geige spielte.
Ein nachdenklicher Roman
Der Rätsel sind plötzlich viele: Da findet sich im Nachlass von Lars der Brief einer Lisa in Kinderschrift, in dem von einem Schweigegelübde und einem Todesfall die Rede ist. Die hypersensible Inga wird von einer Journalistin bedrängt, die offenbar etwas von einer Geliebten des Gatten weiß. Die 17-jährige Sonia hat am 11. September, in unmittelbarer Nähe der Twin Towers, etwas Schreckliches gesehen, das sie niemandem erzählen kann. Erik bekommt in seinem Haus in Brooklyn eine umwerfend aussehende schwarze Mieterin namens Miranda, die ihn entzückt, ihn aber auf Distanz hält, wogegen ihre kleine Tochter seine Freundschaft sucht. Irgendjemand beobachtet alle drei und macht Fotos von ihnen, die er im Haus deponiert.
Siri Hustvedt hat einen sacht spannenden, einen gemächlich dahinschreitenden und bewusst unökonomisch gebauten Familienroman geschrieben, ein Buch, das das Erwartbare verschmäht, das angereichert ist mit Assoziationen und Querverweisen, das nicht durch Pointen punktet, sondern durch seinen psychologischen Spürsinn und seine Nachdenklichkeit. In ihren Dankesworten am Schluss legt die Autorin ihre Karten auf den Tisch und macht klar, dass sie hier auch von ihrer eigenen, aus Norwegen stammenden Familie erzählt, ja sie führt ihren verstorbenen Vater sogar als Mitverfasser an: Er hat ihr gestattet, seine autobiografischen Aufzeichnungen über seine Kindheit im Farmhaus und den Kriegsdienst im Pazifik für ihren Roman zu verwenden, und Hustvedt hat Passagen daraus in die Erzählung montiert.
Doppel-Spiegelbild der Autorin
"Unbekannte Schlüssel" hat Lars Davidsen fein säuberlich auf das Schild eines Schlüsselbunds geschrieben. Es liegt nahe, den familiären Schlüssel weiterzuverwenden und im unheimlich faszinierenden Autor Max Blaustein ein Alter ego von Paul Auster zu sehen, mit dem Hustvedt verheiratet ist. Der Roman drängt diese Sicht nicht auf, macht sie aber auch nicht unmöglich.
Mit dem Kunstgriff eines männlichen Erzählers hat Siri Hustved den Versuch unternommen, sich die eigene Geschichte vom Leib zu halten und ein wenig Familienballast abzuwerfen. Unverkennbar sind die Geschwister Erik und Inga so etwas wie ein Doppel-Spiegelbild der Autorin. Mit Erik ist ihr das plausible Porträt eines Psychiaters gelungen, der gehörig unter Triebstau leidet, dem seine Patienten zusetzen und der sie doch braucht, um selbst Kontur zu gewinnen.
Die Arbeit war mein Skelett, meine Muskulatur. Ohne sie fühlte ich mich wie eine Qualle.
An sich selbst beobachtet er einige zumindest beunruhigende Dinge, zum Beispiel einen verbalen Tic: "Ich bin so einsam", sagt er immer wieder vor sich hin, ohne es gleich zu merken.
Figuren aus Fleisch und Blut
Was Dr. Davidsen und Kollegen uns über Träume, Trauerarbeit und Erinnerungsvermögen und über den Stand der Hirnforschung zu erzählen haben, verrät, dass Siri Hustvedt sich gründlich kundig gemacht hat. Vielleicht wird die Absicht, den Leser zu belehren, bisweilen allzu deutlich erkennbar. Und dennoch sind die Figuren dieses Romans aus Fleisch und Blut, wir fühlen mit ihnen, nicht leidenschaftlich, aber wohlwollend, und wir freuen uns, wenn Erik zum Schluss zwar nicht bekommt, was er wollte, aber das, was er bekommen hat, dann auch will.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 7. März 2008, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 9. März 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Siri Hustvedt, "Die Leiden eines Amerikaners", aus dem Englischen übersetzt von Uli Aumüller, und Gertraude Krueger, Rowohlt Verlag