Der Mensch Nicolas Sarkozy
Frühmorgens, abends oder nachts
Yasmina Reza begleitete Nicolas Sarkozy ein Jahr lang während seines Wahlkampfes. Nicht um Enthüllungen geht es Reza allerdings, sondern um den Menschen Sarkozy in seinen großen und kleinen Momenten. Glorifizierung oder Verdammung sind Reza daher fremd.
8. April 2017, 21:58
Der Mann sorgt für Schlagzeilen. Mal lässt er sich als Befreier der bulgarischen Krankenschwestern feiern, mal wettert er gegen die Türkei, er lädt Muammar al-Gaddafi nach Paris ein und schmeichelt der chinesischen Führung, er lässt sich scheiden und findet wenige Monate später eine neue große Liebe, die er umgehend heiraten muss. Aber wer ist Nicolas Sarkozy wirklich?
Der Mann hinter den Masken
Die französische Theaterautorin Yasmina Reza hat versucht, sich dem Phänomen Sarkozy anzunähern: Ein Jahr lang hat sie ihn begleitet, im Präsidentschaftswahlkampf, als Sarkozy sich als Retter einer darniederliegenden Nation präsentierte. Ihr in Frankreich vielbesprochenes Buch "L'aube, le soir ou la nuit" liegt nun in der deutschen Übersetzung vor, und Reza unternimmt darin alle Anstrengungen, um den Mann hinter der Maske zu erkennen.
Im Flugzeug zurück nach Frankreich reden wir über die Sehnsucht nach dem Alleinsein. Er will nicht zugeben, dass es das gibt. Er sagt zusammenhanglos, aus dem Gedächtnis, der Mensch ist zum Alleinsein nicht gemacht. Welch ein Egoismus, allein sein zu wollen. Ich mag mich nicht genug, um mich nach dem Alleinsein zu sehnen. Sich selbst genügen, das ist die egoistischste Formulierung überhaupt.
Ein nachdenklicher, womöglich sogar selbstkritischer Sarkozy? Auch das ist nichts weiter als eine Maske, befindet Reza.
Nachgeplapperte Worthülsen, absolut nicht auf der Höhe seiner Intelligenz. Ganz abgesehen von der Realität, auf die sie sich beziehen mögen, verrät die Tatsache, dass er auf diese Plattitüden zurückgreift, eine unerwartete Verletzlichkeit.
Einzelne Szenen
Diese Verletzlichkeit taucht immer wieder auf, mal offen angesprochen, mal verklausuliert. Während Reza dem Noch-nicht-Präsidenten auf seinen Touren quer durch Frankreich folgt, ihn dabei beobachtet, wie er sich jeden Tag neu erfindet, kristallisiert sich langsam das Bild eines Mannes heraus, der hinter einer nimmermüden Fassade ein anderes Gesicht verbirgt.
Wer also ist Nicolas Sarkozy? Eine endgültige Antwort auf diese Frage liefert Yasmina Reza nicht. Stattdessen reiht sie - ganz im Stil der Theaterautorin - einzelne Szenen aneinander, Schnappschüsse aus einem Wahlkampf, die oft den Wahlkämpfer, aber manchmal auch den Menschen zeigen, einen Menschen mit vielen Facetten. Da ist der unbändige Hans Dampf in allen Gassen, der es nicht aushält, irgendwo nicht dabei zu sein, da ist der oberflächliche Genießer, der in Zeitungen nicht die politischen Analysen, sondern die Anzeigen für Rolex-Uhren studiert, da ist der schulterklopfende Jedermann, der jeden duzt und das in Frankreich so gebräuchliche "Sie" nicht zu kennen scheint, da ist aber auch der Denker, der über abstrakte Themen reflektieren kann.
Mehrmals höre ich ihn sagen, wenn ich jeglichen Ehrgeiz hinter mir gelassen habe. In der Luft, wo wir uns an diesem 27. Oktober 2006 befinden, wiederholt er, der Ehrgeiz ist nicht das letzte Ziel, es gibt immer noch den Tag danach. Das stelle ich infrage, nicht seine Aufrichtigkeit, aber die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Tag kommt, ohne dass die Konturen des Lebens selbst verwischen. Er hält mir entgegen, ich würde Ehrgeiz und Begehren verwechseln (womit er recht hat, aber wir haben einen anderen Begriff von Ehrgeiz).
Kritische Auseinandersetzung
Überraschend genug, dass jemand wie Sarkozy, der sich die Medien - vor allem die kritischen - am liebsten vom Leib hält, die Autorin ein Jahr lang in seiner engsten Umgebung duldete. Beim Lesen des Buches wird freilich schnell klar, dass Sarkozy sich selbst ein Denkmal setzen wollte. Eine weltberühmte Autorin und ein Politiker auf dem Weg zur Macht: Die Kombination scheint Sarkozys Eitelkeit geschmeichelt zu haben.
"Selbst wenn Sie mich verreißen, wird es zu meinem Ruhm geschehen", erklärte er der Autorin, und in solchen Sätzen spiegelt sich der bekannte, publicityverliebte Sarkozy, der immer irgendeine Öffentlichkeit braucht, selbst wenn diese ihn verurteilt. Aber das tut Reza gar nicht. Vielmehr entwirft sie anhand der Person Sarkozy eine kritische Auseinandersetzung mit der Macht an sich, und mit den Spielregeln und Geheimnissen, denen sich jene, die diese Macht anstreben, unterwerfen müssen.
Strukturen der Macht
Diese zweite Ebene des Buches wird von einem gewissen G. gestützt, der immer mal wieder auftaucht und den intellektuellen Hintergrund für den hyperaktiven Wahlkämpfer Sarkozy bildet. Viel wurde in französischen Medien über die Identität dieses G. gerätselt, dem das Buch gewidmet ist. Aber wer auch immer es sein mag, an seinem Beispiel verdeutlicht Reza die Strukturen der Macht, ihre Versprechungen und auch ihre Zwänge.
Ich befrage G. nach seiner Zukunft. In seiner Antwort bringt er nebenbei auch dies unter "...oder ich mache halt was anderes". Dieses berühmte "was anderes", so of schon gehört, diese Tür, die man nie durchschreitet. Worte ohne Konturen, um zu verbergen, was für ein seltsames Gefängnis das politische Schicksal ist.
Ein Gefängnis, in dem sich auch Sarkozy befindet, freilich ohne sich als Gefangener zu sehen. Wie empfindet er sich selbst, was ist Verkleidung, was ist echt? Eine abschließende Antwort auf diese Frage will und kann auch Yasmina Reza nicht liefern.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 9. März 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Yasmina Reza, "Frühmorgens, abends oder nachts”, aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, Hanser Verlag