"Arbeitsplatzbeschreibung" eines Politikers

Nachricht an alle

"Nachricht an alle" ist ein Politiker-Porträt. Michael Kumpfmüller versucht sich aber auch an einem Gesellschaftsbild - und will viele Stimmen einfangen: zum einen die der Politik, des politischen Establishments, aber auch die Stimmen des Widerstandes.

Ein heißer Sommer zieht ins Land. Wochenlange Streiks, Demonstrationen und Attentate stellen die Regierung eines nicht näher genannten Landes auf eine harte Bewährungsprobe. Brennende Mülltonnen, verwüstete Stadtteile, einen Anschlag auf eine Moschee und Libanesen, die sich in die Luft sprengen melden die Schlagzeilen: eine Gesellschaft am Rande des Chaos. Eine Herausforderung vor allem auch für den Innenminister, den sachlichen Selden: ein Mann im Spannungsfeld zwischen populistischem Premier und aufgebrachter Basis, abtrünnigen Gewerkschaften und gieriger Medienmeute. In "Nachricht an alle", seinem neuen Roman, geht es Michael Kumpfmüller um eine Nahaufnahme der Politik in einer Situation der Krise.

"Ich wollte der politischen Klasse eine Stimme geben und sie herausholen aus diesen alten, wohlbekannten, uns allen geläufigen Verachtungsspielen", erzählt Kumpfmüller im Gespräch. "Es sollte mal ein Politiker als Figur vorkommen, um so etwas wie eine Arbeitsplatzbeschreibung zu versuchen."

Zahlreiche Stimmen

"Nachricht an alle" ist mehr als ein Politiker-Porträt. Kumpfmüller versucht sich an einem Gesellschaftsbild - und will viele Stimmen einfangen: zum einen die der Politik, des politischen Establishments, verkörpert durch Selden, seine Mitarbeiter und seinen Premier, zum anderen die der Medien, der Journalisten und Blattmacher; aber auch die Stimmen des Widerstandes, der Akteure des Protests und des Terrors, und schließlich anonyme Stimmen aus dem Volk, vom Autor "Chor" genannt. Doch all die Stimmen bleiben undeutlich, sie äußern nur Schlagworte, Parolen und Sprechblasen, sie fügen sich zu keiner Gesellschaftsdiagnose.

"Von der Dramaturgie her ist es so, dass eine Gesellschaft unter krisenartig zugespitzten Verhältnissen gezeigt wird. Die Krise baut sich auf, sie findet statt und wird wieder abgebaut", so der Autor. Es gehe darum, "das auszuhalten als Gesellschaft."

Zum Tagesgeschäft übergehen

Kumpfmüllers Roman beginnt hochdramatisch: mit einer SMS, die die Tochter des Innenministers an ihren Vater schickt. "O mein Gott. Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab (...)" lautet der Text. Kurz darauf sieht Selden Bilder einer Flugzeugkatastrophe im Fernsehen. Doch die Tragödie seiner Tochter lässt Selden seltsam unberührt. Ohne sich eine Auszeit zu nehmen oder in sich Trauer und Verzweiflung zu verlieren, geht er weiter dem politischen Tagesgeschäft nach. Zumal auch bald klar wird, dass die Tochter Opfer eines Unfalls und nicht eines politischen Attentats wurde.

Kumpfmüller zeigt den Politiker in Sitzungen mit Mitarbeitern, bei der Begegnung mit dem Premier, beim Italiener mit dem Gewerkschaftsboss, er zeigt ihn bei Wahlveranstaltungen und in Hotelzimmern, zuhause bei seiner Frau, aber auch im Bett der Geliebten in Brüssel. Er zeigt den Routinier des öffentlichen Auftritts, den Mann mit der kaputten Ehe, das Opfer eines Attentats. Er stellt einen Politiker vor, der "Ich kümmere mich" zu seinem Credo machte, der helfen und verbessern wollte - doch längst zum nüchternen Pragmatiker geworden ist.

"Etwas in ihm begrüßte die Krawalle auch, sie belebten ihn, er langweilte sich nicht mehr", heißt es an einer Stelle.

Objekt des Interesses

Selden nennt die Urheber der Krawalle Gesindel, Lumpenproletariat und Kriminelle, er antwortet mit massierter Polizeipräsenz und der Forderung nach schärferer Sicherheitspolitik. Dieser Politiker, der in der Krise das Gesetz des Handelns verwirklicht, wird zum Objekt des Interesses einer jungen Journalistin. Hannah möchte Selden für ein Nachrichtenmagazin porträtieren. "Sie interessierte sich für die Idee des Panzers. Was dahinter war. Die dünne Haut der Politiker", schreibt Kumpfmüller.

Hannah interviewt Selden, trifft ihn wieder, hält regelmäßig Kontakt. Es kommt, was kommen musste.

Sie war sehr dünn und fühlte sich rau und kantig an, ein bisschen wie Papier, etwas, das die ganze Zeit knisterte, während er sich langsam zu ihr vorarbeitete (...) Als es vorbei war, lachte und heulte sie. O Mann, das, ja, o Mann.

Nicht erst diese Sex-Szene macht deutlich, woran dieser Roman vor allem krankt: an sprachlicher Impotenz.

Vage und schemenhaft

Der Roman hat nicht nur sprachliche, er hat auch dramaturgische Schwächen. Was die Unruhen eigentlich entzündete, wogegen sich die Proteste formulierten und warum sie sich schließlich wieder legten - wir erfahren es nicht. Alles bleibt vage, schemenhaft, grob schraffiert. Auch die Figur des Selden. Der Innenminister bleibt Reißbrettfigur. Er gerät nie in Konflikt, weder mit sich noch mit anderen.

"Nachricht an alle" ist ein "politischer Roman" - ohne politischen Diskurs. Allenfalls ein paar en passant eingestreute, aber nicht weiter diskutierte Thesen gibt es: Thesen wie jene vom "Ende der heroischen Politik", vom Westen, der müde sei und auf den "Todesstoß" warte, oder von der Politik, die ein Imageproblem, aber keine Krise habe.

"Etwas blieb ihm sehr fremd, etwas rührte ihn auch (...)"; "Etwas zog sie an, etwas blieb ihr auch abgewandt"; "Etwas wurde fasslich, rutschte wieder weg, bis es die ersten Konturen gab (...)": Sätze wie diese sind symptomatisch für den Roman. Das Ungefähre der Formulierung korreliert mit dem Verschwommenen der Handlungsträger und Situationen. Als "Arbeitsplatzbeschreibung" eines Ministers, die das Geschäft der Politik zu erhellen und gängigen Ressentiments entgegenzuwirken vermag, wie Kumpfmüller seine Absicht umriss, ist der Roman misslungen. Die "Nachricht an alle" ist Stimmengewirr, geheimnislos und redundant. Fesselnde Nachrichten lesen sich anders.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 14. März 2008, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 16. März 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Michael Kumpfmüller, "Nachricht an alle", Verlag Kiepenheuer & Witsch