Make Love Not War

Bin ich ein 68er?

Flower Power. Make Love Not War. Turn on, tune in, drop out. Macht kaputt, was euch kaputt macht... Sprüche, die in den späten 1960ern in den Zeitungen standen, in den Büchern und an den Hauswänden. Was blieb davon? Eine persönliche Spurensuche.

Bin ich ein 68er? Diese Frage beschäftigt mich seit langem. Bin ich der bunten Schar der Hippies und Studentenbewegten hinzu zu zählen - was ja sowohl Ehre wie auch Blamage bedeuten kann, je nach Sichtweise - oder eben nicht? Gehöre ich der Generation der Spät-60er, der Flower-Poweristen, der Make-Love-Not-War-Verkünder irgendwie noch an - oder bilde ich mir das nur ein?

Ich weiß es nicht, und wahrscheinlich interessiert's mich eben deshalb. Der Mensch will ja immer Rätsel lösen. Rätselseiten in jeder Zeitung, florierende Magazine, die gar nur Rätsel enthalten, Rätselspiele im Internet, beliebte Quizspiele in Funk und TV sind der Beweis: Der Mensch ist süchtig nach Rätseln. Ich auch. Das nur nebenher.

Objektiv gesehen, nach Jahreszahlen und Geburtsdaten, bin ich kein 68er. Dafür bin ich zu jung, wie schon einmal hier angemerkt. Gerade auf zarten Kinderbeinen wackelte ich im denkwürdigen Jahr durch die Welt, jenem, in dem Demonstrationen, Aufmärsche und Barrikadenkämpfe die Titelseiten beherrschten.

Nicht bunt genug
Die späten 1960er Jahre waren auch jene, als junge Männer plötzlich lange Haare und junge Frauen Miniröcke trugen und beide sich mit bunten Batik-Shirts und Blumen im Haar schmückten. In den Spät-60ern fand ja eine schiere Explosion der Farbe im menschlichen Outfit statt. War davor alles noch Grau in Grau gewesen, konnte es nun nicht bunt genug sein - eine Neuerung, die durchaus bis heute ihre Spuren hinterlässt.

Dann gab's noch die Rockmusik, eine eigenartige und jedenfalls neuartige Mischung aus banaler Schlagerpoesie einerseits, Manifestationen und "Message" (dieses Wort ersetzte damals die deutsche "Botschaft") andererseits. Musikalisch gesehen: aus simpel-populären Melodeien einerseits, avantgardistischen Klang- und Formexperimenten andererseits.

Die Hippie- und Rockmusiker formten die Trivialmusik, wie meine braven Musikprofessoren sie Jahre später noch nannten, zum künstlerischen Ausdrucksmittel um, zum Träger ästhetischer Mainifestation, wie auch zum Medium von Sinnstiftung und -findung: zur Kunst eben. Unterhaltung und Kunst wollten plötzlich eins sein - ein Vorgang, der meiner bescheidenen Meinung nach einen durchaus essenziellen Beitrag zur Musikgeschichte darstellt. Zumal der von meinen Musikprofessoren unbezweifelte Mozart zu seiner Zeit ja auch nichts so sehr anderes getan hat.

Aber wie gesagt, dafür war ich zu jung, ich "talke" hier ausdrücklich nicht über "my generation" (bitte bei The Who nachschlagen) und kam erst über ein Jahrzehnt später, gleichsam schon als Historiker auf diese ganze Spät-60er... nun ja, "Bewegung", wenn man will.

Eine verlegerische Innovation
Und doch beschäftigten mich die seltsame Generation und ihre obskuren Verhaltensweisen - obskur aus der Sicht meiner Erziehungsberechtigten - schon als Kind. Meine geliebte Großmutter (geliebt vor allem dank großzügiger Schokogeschenke, ganze (!) Milka-Tafeln) hatte damals die "Bunte" abonniert. Damals war die "Bunte" jedenfalls geradezu sensationell. Sie brachte Fotoreportagen aus aller Welt, und das, wie der Name "Bunte" schon sagt, in Farbe.

Heute, da selbst Tageszeitungen ohne durchgängigen Farbdruck am Kiosk nicht mehr vorkommen, erscheint das jüngeren Lesern vielleicht wenig aufregend. In den 60ern dämmerte allerdings die gesamte Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft noch vollständig in Schwarzweiß dahin, infolge der damals horrenden Kosten des Vierfarbdrucks. Die "Bunte" war eine verlegerische Innovation ohnegleichen, ihre leuchtende Farbigkeit einmalig. Sie bedeutete eigentlich die Erfindung des Vierfarbdrucks im Zeitungswesen. Das weiß ich wiederum heute.

Meine Großmutter war also Abonnentin der "Bunten", und natürlich brachte diese 1969 eine Reportage vom inzwischen ja legendären Woodstock-Festival. So lernte ich durchaus schon als Kind Woodstock kennen. Ich staunte, daran erinnere ich mich lebhaft, nicht wenig über diese Bilder: Panoramaaufnahmen riesiger Massen von Menschen, die einfach in der Wiese saßen. (In "Wikipedia" ist heute zu lesen, es war eine halbe Million, aber mit solchen Zahlen konnte ich damals nichts anfangen).

Ich meine: Mir war schon klar, dass ein Mensch in der Wiese sitzen kann, persönlich tat ich das auch öfters. Aber dass Erwachsene in der Wiese sitzen, erschien mir eindeutig abwegig. Meine standesbewusste Großmutter tat das nie. Sie saß auf einem Sessel, eventuell auf einem Liegestuhl. Aber sicher nicht auf dem blanken Boden! Desgleichen meine Mutter. Von meinem Vater wusste ich es nicht so genau, da er sich zu meinen kindlichen Wachzeiten im Büro aufhielt, und ich ihn kaum je zu Gesicht bekam. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich auf eine Wiese herab ließ. Erwachsene - so mein Wissensstand - sitzen nicht auf dem Boden. Das tun nur Kinder.

Und dann das: Unzählbare Erwachsene, die einfach in der Wiese sitzen.

Frauen mit Bärten
Noch erstaunlicher waren die Nahaufnahmen: Es gab dort Männer mit langen Haaren. Als Männer erkennbar waren sie an den Bärten. Ich wusste wohl, dass in der Welt Männer mit Bärten vorkamen, wiewohl sie in meiner Verwandtschaft nicht existierten. Und ich wusste, dass jedenfalls ausschließlich Männer Bärte tragen; ein Bart ein untrügliches Zeichen für einen Mann war. Frauen hingegen hatten lange Haare, was Männer wiederum niemals hatten, und keine Bärte.

Die Kombination aus Bart - daher zweifelsfrei Mann - und langem Haar - daher Frau - erschien mir grotesk, sensationell und absolut unglaublich. Ich war absolut fest der Überzeugung gewesen, dass es langhaarige Männer nicht gab. Dass sie in der Natur nicht vorkamen. Sie waren unmöglich. Aber es gab sie doch. In Woodstock, 1969, in den Bildern in der "Bunten".

Seither weiß ich: Man kann nie wirklich sicher sein, dass es da draußen irgendetwas nicht gibt. Es gibt in der Welt mehr, als man glauben möchte - eine Erkenntnis, die sich ja immer wieder bestätigt.

Und nun also zur bohrenden Frage: Bin ich ein Spät-60er, ein Hippie und Studentenbewegter? Ich kann jedenfalls sagen: Woodstock zertrümmerte mein Weltbild. Nach Woodstock war ich ein anderer als zuvor. So komme ich zum Schluss, dass ich da doch ein wenig dazugehöre.

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