Eine Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz

Auf Hilfe angewiesen

In der Pflegewissenschaft wird der Beziehung zwischen Betreuern und Klienten ein hoher Stellenwert beigemessen. Auch für die Betroffenen ist die Qualität der Beziehung ausschlaggebend für ihre Zufriedenheit. Die Verwirklichung im Alltag ist schwierig.

"Es ist ein gutes Gefühl, meiner Mutter etwas zurückgeben zu können, was sie früher für uns getan hat.", sagt Hedwig Denkmayr, die ihre 80-jährige Mutter gemeinsam mit ihren neun Geschwistern und einer slowakischen Betreuerin pflegt und betreut.

Alle zehn Kinder der Witwe sind in pflegerischen oder sozialen Berufen tätig, die meisten wohnen wie sie im Mühlviertel: "Wir in sind in der glückliche Lage, dass wir die Mutter zuhause pflegen können, aber ich habe vollstes Verständnis, wenn das nicht geht, " meint Tochter Aloisia.

Wunsch nach familiärer Pflege

80 Prozent der hilfsbedürftigen Menschen in Österreich werden von Angehörigen betreut. Der Wunsch, zuhause gepflegt zu werden, ist sehr verbreitet. Die Motivation der Familienmitglieder, die Betreuung zu übernehmen, hat mit dem Gefühl der Dankbarkeit, aber auch der Verpflichtung gegenüber der älteren Generation, zu tun. Und dann gibt noch - insbesondere am Land - die Tradition und den moralischen Druck.

Die Dauer der Pflegebedürftigkeit hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Von durchschnittlich wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren - vor allem aufgrund der medizinischen Fortschritte und der damit verbundenen längere Lebensdauer, auch bei chronischen Krankheiten. Allein deshalb wird die Frage der familiären Beziehungen immer größer.

Jemanden zu hegen und zu pflegen ist für viele Menschen etwas schönes, die Beziehungen können sich dadurch vertiefen und neue Dimensionen gewinnen. Waren die familiären Verhältnisse allerdings schon zeitlebens schwierig, wurden unterschwellige Konflikte nie bearbeitet oder besteht eine große Scheu bezüglich Körperkontakt, dann ist die Gefahr groß, dass sie Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds diese Situation verschärft.

Denn das Machtgefälle, das durch Hilfsbedürftigkeit entsteht, kann zu später "Vergeltung" für unerfüllte Bedürfnisse genutzt werden, bewusst oder unbewusst.

Meist ist es natürlich die Überforderung, die pflegende Familienmitglieder zu vernachlässigender, manchmal auch gewalttätiger Pflege führt. Die durch Pflegebedürftigkeit entstehende soziale Isolation, in die viele Familien geraten, verstärkt die Belastungen, verhindert aber auch soziale Kontrolle und Unterstützung.

Beziehungsfeindliche Entwicklungen

"Lieber von der Tochter ein Puffer als im Heim", soll eine ältere Frau gemeint haben, die in den eigenen vier Wänden gepflegt wird. Grobheiten in Worten und Taten werden akzeptiert, um dem Heim zu entkommen. Die Angst vor dem Altersheim - meist mit "Abschiebung" verbunden - mag manchmal auf falschen Vorstellungen beruhen, hat aber auch seine berechtigten Gründe.

Pflege ohne Beziehung zwischen betreuender Person und Klient ist leere Handlung, Fließbandarbeit, ist menschenunwürdig. Genau dieser Beziehungsaufbau ist aber im traditionellen Altersheim oft nicht möglich. Gründe hierfür sind etwa Personalmangel, aber auch das Prinzip der Funktionspflege, bei der die Pflegehandlungen auf verschiedene Betreuerinnen aufgeteilt werden: eine wäscht durchgehend, die zweite legt alle trocken, die andere "füttert" alle durch. So verhindert man den Aufbau von Kontakt und Vertrauen. Die Bezugspflege, die sich immer mehr verbreitet, setzt hingegen auf eine Hauptbezugsperson für jeden Klienten.

"Durch Strukturen wie Mehrbettzimmer , offene Türen, ständig unterbrochene Pflegehandlungen ist die für Pflege notwendige Intimität oft nicht gegeben", kritisiert Pflegewissenschafterin Hanna Mayer. Auch im ambulanten Bereich sind Tendenzen zu beobachten, die dem Bedürfnis jedes Menschen nach Vertrauen und Kontinuität entgegengesetzt sind.

Etwa Spezialisierung der Gesundheitsberufe, mit je eigenen Berufsschutzgesetzen. Weg vom Bild der Frau mit dem großen Herzen, die es in der Betreuung brauche und sonst gar nichts, hat hier hat das Pendel zu weit ausgeschlagen: wenn alte Menschen an die zehn verschiedene Berufsgruppen für spezialisierte Kurz-Einsätze in ihren Privatbereich lassen müssen, die noch dazu alle keine Zeit für ein Gespräch haben, dann sei das "menschenverachtend für beide, für die Klientin und die Betreuerin", urteilt Veronika Wasner von der Volkshilfe.

Nur eine Frage der Chemie?

Schon an wenigen Beispielen wird deutlich, dass das Gelingen einer Pflegebeziehung keine reine Sache der Chemie zwischen zwei Menschen ist, sondern die Politik die Rahmenbedingungen dafür schaffen kann. Beispiele zeigen, dass menschenwürdige Pflege auch in Heimen möglich ist - allerdings scheint das noch immer eine Frage der finanziellen Ausstattung der betreuungsbedürftigen Menschen zu sein.

Auf der anderen Seite muss man feststellen, dass selbst die besten Rahmenbedingungen keine Garantie für menschenwürdige Pflege bieten. Denn bei dieser intimen Dienstleistung überschreitet man durch Körperkontakt und Intimpflege die Grenzen der Privatheit und Intimität des Betreuten. Somit stellt Pflege an die Beteiligten große Anforderungen: eine wertschätzende und empathische Haltung sowie kontinuierliche professionelle Reflexion ist unerlässlich.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 17. März bis Donnerstag, 20. März 2008, 9:05 Uhr

Buch-Tipps
Luitgard Franke, "Demenz in der Ehe. Über die verwirrende Gleichzeitigkeit von Ehe- und Pflegebeziehung", Mabuse-Verlag

Christina Geister, "Weil ich für meine Mutter verantwortlich bin. Der Übergang von der Tochter zu pflegenden Tochter", Verlag Hans Huber

Christina Hallwirth-Spörk, "Merkmale der sokratischen Methode im mäutischen Pflege- und Betreuungsmodell von Cora van der Kooij", Zorgtalent.Producties

Elisabeth Seidl, Sigrid Labenbacher (Hg.), "Pflegende Angehörige im Mittelpunkt. Studien und Konzepte zur Unterstützung pflegender Angehöriger demenzkranker Menschen", Böhlau Verlag

"24-Stunden-Betreuung zu Hause", Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz

Links
Pflege daheim - Plattform für pflegende Angehörige des bmsk
Pflegenetz.at
Plattform gegen die Gewalt in der Familie
Österreichisches Rotes Kreuz
Forschungsinstitut des Wiener Roten Kreuzes
Volkshilfe Wien
Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien