In Medizin und Psychotherapie

Achtsamkeit

Ein zweieinhalbtausend Jahre altes Wissen wird wieder modern. Die buddhistische Lehre von der Achtsamkeit findet nicht nur unter Meditationsschülern Anklang. In der Psychotherapie und in Teilen der somatischen Medizin boomt das Thema Achtsamkeit.

Mit ihren herkömmlichen Methoden kann die Psychotherapie Menschen nicht helfen, die an unabänderlichen Krankheiten wie Krebs leiden. Denn sie brauchen weder psychoanalytische Einsichten in die Prägungen ihrer Kindheit noch verhaltenstherapeutisches Selbstbehauptungstraining. Wohl aber eine Haltung des Annehmens, der Akzeptanz, sagt Martin Bohus, Professor am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim.

"Bislang war es so, dass die Kirche, die Religion auf der sinnstiftenden und damit auf der Ebene der Akzeptanz tätig war und die Psychotherapeuten eher auf dem Gebiet der veränderungsorientierten Techniken und Methoden. Mit der zunehmenden Säkularisierung in unserer Gesellschaft haben wir es mit Patienten zu tun, die auf diese Ressource des Glaubens nicht mehr zurückgreifen können und daher extrem hadern mit Schicksalen, die nicht veränderbar sind. Und das heißt, da fehlte einfach ein großer Baustein in der Psychotherapie, der gefunden wurde in der Achtsamkeit."

Buddhistische Meditation und westliche Medizin

Angestoßen wurde die Achtsamkeitswelle durch den Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn in den USA. Kabat-Zinn gründete schon in den 1970er Jahren an der Medizinischen Hochschule der Universität Massachusetts eine Klinik für Stressminderung. Seine grundlegende Idee war, die buddhistische Meditation, die mit der Hippie-Bewegung in die USA gekommen war, in die etablierte Medizin einzuführen.

Er arbeitete mit Patienten, die an chronischen Schmerzen, Herzerkrankungen, Hautleiden, Depressionen oder Ängsten litten. Und er ging daran, empirisch die Auswirkungen des Meditierens zu erforschen.

In der Achtsamkeit, das ist für Kabat-Zinn entscheidend, wertet man nicht, was man wahrnimmt, sondern nimmt es einfach an; man richtet seine Aufmerksamkeit mit Absicht auf die eigenen Wahrnehmungen; und man konzentriert sich auf das bewusste Erleben des aktuellen Moments. Einsicht soll entstehen durch ein alles beobachtendes, achtsames Wahrnehmen.

Achtsamkeit und Borderline-Patienten

Auch bei psychisch schwer erkrankten Patienten greifen Therapeuten auf Achtsamkeitsübungen zurück. Martin Bohus ist auf die Behandlung so genannter Borderline-Patienten spezialisiert. Ein Ansatz zu ihrer Behandlung ist die dialektische Verhaltenstherapie, ein komplexes Behandlungsprogramm, das neben anderen Elementen auch die Schulung der Achtsamkeit enthält. Sie soll den Patienten helfen, sich von ihren heftig aufwallenden Emotionen zu distanzieren. So lernen sie, Dinge einfach nur wahrzunehmen und zu beschreiben, ohne sie zu bewerten.

Achtsamkeit und Depressionen

Auch in der Rückfallprophylaxe von depressiven Patienten hat sich das Einüben von Achtsamkeit bewährt. Menschen, die mehrere depressive Episoden hinter sich haben, drohen oft dann wieder in eine Depression zu fallen, wenn sie bestimmte Gedanken oder Gefühle wie automatisch als Warnsignale einer neuen, heraufziehenden Krise werten.

Kanadische und englische Psychologen entwickelten daher ein Programm, das sie achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie nannten. In einem Kurs lernen die Patienten eine Atemmeditation oder die aufmerksame Reise durch den Körper, daneben werden sie über die Mechanismen des Rückfalls aufgeklärt.

Dieser Ansatz des Achtsamkeitstrainings ist anders als bei der Verhaltenstherapie. Während die Verhaltenstherapie Gedanken verändern will, zielt die Achtsamkeitsschulung darauf, die Einstellung zu den Gedanken zu ändern: sie als flüchtige geistige Ereignisse zu betrachten und sich daher nicht mit ihnen zu identifizieren.

Die Forscher sprechen von De-Identifizierung: sich nicht mit dem identifizieren, was man bemerkt. Wer erst einmal bewusst durchatmet, ein- und ausatmet, bevor er reagiert, hat seine automatische Reaktion bereits unterbrochen. Er muss nicht automatisch denken, wie furchtbar alles ist, oder automatisch aufbrausen. Das heißt jedoch nicht, etwas auszublenden. Im Gegenteil: In der Achtsamkeit bleibt der innere Beobachter eng mit dem Beobachteten verbunden, auch, wenn er sich nicht damit identifiziert.

Zwei Arbeitsformen

In der Psychotherapie gibt es heute zwei Formen der Arbeit mit der Achtsamkeit. Die eine nutzt Achtsamkeit als Übung, um einen gelassenen Zustand des Geistes herzustellen, ein distanzierendes Betrachten. Die andere nutzt sie, um das zu erforschen, was im Unbewussten versteckt ist: Hier ist Achtsamkeit ein Mittel, um mit Hilfe eines Psychotherapeuten die verborgenen Muster des Denkens und Fühlens zu erkunden, die das Erleben und Verhalten bestimmen.

Über die Wahrnehmung des Körpers führt der Weg zu dem, was noch nicht bewusst ist. So vertritt es Hakomi, eine körperbezogene Richtung der Psychotherapie. Ihr Begründer, Ron Kurtz, schrieb schon 1990 programmatisch, dass in der Psychotherapie nichts so wirksam sei wie innere Achtsamkeit. Für ihn hieß dies, die Sensibilität für Erfahrungen zu fördern, damit ein Mensch die inneren Grundüberzeugungen und charakterlichen Haltungen erkennt, die sein Leben bestimmen. Diese aber sprächen aus dem Verhalten und den Signalen des Körpers.

Psychologen nennen es "Selbstwirksamkeit": Wer seine Gedanken und Gefühle wahrnehmen, sie lenken und achtsam mit sich selbst umgehen kann, der stärkt die Überzeugung, dass er sein Wohl und Wehe selbst mehr gestalten kann.

Die Selbstüberprüfung

Martin Bohus meint, dass in dieser alten Überzeugung Buddhas vielleicht ein grundlegendes Prinzip verborgen ist, wie Prozesse der Veränderung und Heilung in einer Psychotherapie zustande kommen, und zwar etwas, das auf englisch self-monitoring heißt, sich selbst zuschauen und prüfen.

"Was aus dem Buddhismus jetzt in die Psychotherapie einfließt, hieß früher im Abendland Besinnung oder Kontemplation. Sie muss nicht gleich zu Gott führen, aber sie führt mehr zu sich selbst."

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Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 27. März 2008, 19:05 Uhr