Auf Konrad Lorenz' Spuren

Kaltenburg

Auf den ersten Blick hat Marcel Beyer einen Schlüsselroman über den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz abgeliefert. Das Thema von "Kaltenburg" ist jedoch das Erinnern, ausgehend von der These, dass man seiner Vergangenheit nicht entkommt.

Worum geht es in Marcel Beyers neuem Roman? Zunächst einmal um den österreichischen Nobelpreisträger Konrad Lorenz, auf dessen Lebensgeschichte die Geschichte des Ludwig Kaltenburg deutet.

Die biographischen Eckdaten stimmen überein: Beide, Kaltenburg und Lorenz, sind 1903 in Wien geboren und dort 1989 gestorben, beide hatten eine Professur in Königsberg, gerieten nach dem Krieg in russische Gefangenschaft und beide holt gegen Ende ihres Lebens ein, was sie während des Nationalsozialismus taten, nämlich die Ausdehnung ihrer tierpsychologischen Lehren auf den Menschen und die Integration in die Rassenideologie der Nazis.

Lorenz, Beuys, Sielmann
"Kaltenburg" ist jedoch kein Buch über die Faktenlage der Geschichte und es ist auch kein Schlüsselroman über Konrad Lorenz. Vielmehr geht es hier um die Art des Erinnerns, ausgehend von der einfachen These, dass man seiner Vergangenheit nicht entkommt. Nicht nur an Ludwig Kaltenburg wird dies deutlich, sondern auch an zwei Nebenfiguren, die Beyer nach realen Vorbildern gestaltet - Josef Beuys und Heinz Sielmann.

Tatsächlich hatten der weltberühmte Künstler und der gefeierte Tierfilmer während des Krieges miteinander zu tun und gleichzeitig mit Konrad Lorenz hielten sie sich in Posen auf. Sielmann bildete Beuys in der Deutschen Wehrmacht zum Bordfunker aus, und Beuys blieb dem Freund bis an sein Lebensende verbunden.

Der Filz der Erinnerung
Wer, gerade aus der Generation, der der 1965 geborene Beyer selbst angehört, könnte solche Dinge vergessen: Zum Beispiel den Filz, in den Beuys nach seinem Absturz in der Steppe gehüllt wurde - jener Stoff, mit dem er dann seine Installationen bestritt. Ein Filz der Erinnerung ist Beyers Buch selbst: Aus den historischen Evidenzen, die an die nachgeborenen Generation gekommen sind, gestaltet er seine Kraftzentren. Erzählt wird die Geschichte jedoch vom Rande her. In einem gloriosen ersten Kapitel führt der Autor seinen Ich-Erzähler ein.

Die Erinnerung des Ich-Erzählers
Der Mann heißt Hermann Funk und war nach dem Krieg Kaltenburgs Assistent in Dresden - von der Lebensgeschichte des Konrad Lorenz weicht dieser Hauptteil des Buches entscheidend ab. Funk wird eines Tages von einer jungen Dolmetscherin besucht, die sich über die englischen Namen der heimischen Vögel erkundigen will. Daraufhin löst sich seine Zunge: Ausführlich und hoch emotional berichtet er von seinem väterlichen Lehrmeister, in dessen Bann er noch immer steht und um dessen Dresdener Hinterlassenschaft (darunter eine große Sammlung von Vogelbälgen) er sich kümmert. Kaltenburg selbst, so erfahren wir, hat sich nach Querelen am Institut und mit der Partei in den 1960er Jahren nach Österreich abgesetzt.

In Hermann Funk jedoch bleibt die Erinnerung an den charismatischen Wissenschaftler wach. Alles an Kaltenburgs späterem Leben scheint aus dem Krieg zu kommen und alles scheint vermittelt in der Beobachtung von Tieren: Beim Luftangriff der Alliierten auf Dresden fliegen brennende Vögel vom Himmel, und als die Überlebenden später daran gehen, die Leichen zu bergen, kommt es zu einem noch weit seltsameren Schauspiel: Eine Gruppe von Affen, die aus dem zerbombten Zoo geflohen sind, hilft stumm mit, die entstellten Menschenkörper aus den Trümmern zu ziehen.

Urformen der Angst
So nennt Beyer Kaltenburgs Hauptwerk. Bedenkt man die Herkunft seiner Beobachtungen, werden die Theorien des Verhaltensforschers noch gespenstischer als sie schon sind. Wie den tatsächlichen Konrad Lorenz, der der Krankheit Aids als Selektionsmechanismus etwas Positives abzugewinnen vermochte, holt am Ende seines Lebens auch Kaltenburg die eigene Geschichte ein. In einer späten Publikation leistet er sich einen verhängnisvollen "Gaskammer"-Sager.

Mit moralischer Entrüstung hält sich Beyers Buch zurück, stattdessen endet es mit Marcel Proust. Das letzte Kapitel zeigt Funks Frau Klara, wie sie dasitzt und scheinbar unbeteiligt von den Zeitläufen in der "Suche nach der verlorenen Zeit" liest. Nur scheinbar zusammenhanglos ist auch das letzte Bild, das Beyer von Kaltenburg entwirft: Der Vogelforscher steht auf dem Dach der Dresdener Hochschule für Verkehrswesen und versucht die Krähen wegzulocken, die dort seit Jahren das Gesamtbild stören. Unablässig hebt und senkt er die Arme und rennt - selbst ein überdimensionales Federvieh - unter den Vögeln im Kreis herum: Die Krähen aber fliegen nicht weg, sondern suchen sein Nähe.

Keine Wertungen
Ob dies als ein persönlicher Sieg gelten kann oder als eine Niederlage, bleibt offen, wie überhaupt das Buch "Kaltenburg" sich der Wertung enthält. Allerdings lässt es keinen Zweifel darüber aufkommen, worauf es fast blindlings vertraut: Nicht auf Urteile und Schuldzuweisungen, sondern auf eine Art Selbstheilungskraft der Geschichte. Das dies ein großer und durchaus eigenwilliger Anspruch ist, war Marcel Beyer wohl bewusst, entsprechend sorgsam ging er mit ihm in seinem Schreiben um.

Nach der Lektüre von "Kaltenburg" muss man sagen: Es hat sich beides, die genaue Recherche in Bereichen der Ornithologie und die Komplexität der gewählten erzählerischen Form gelohnt, denn mit diesem Buch ist dem Autor etwas in der intendierten Richtung gelungen: Ein Stück lebendiger und wahrhafter Literatur, die sich gleichermaßen den Klischees verweigert, mit denen ansonsten gerne vom Nationalsozialismus und seinem Fortleben gesprochen wird, als auch dem naiven aufklärerischen Optimismus, der nur allzu oft hinter dieser Rede steckt.

Das Buch der Woche ist eine Aktion von Österreich 1 und der Tageszeitung Die Presse.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Kulturjournal, Freitag, 11. April 2008, 16:30 Uhr

Buch-Tipp
Marcel Beyer, "Kaltenburg", Suhrkamp

Link
Suhrkamp - Kaltenburg