Das (Film-)Bilderbuch einer Stadt

Transit Marseille

Marseille ist mehr als "French Connection". Mit mehr als 2.600-jährigem Bestehen ist Marseille die älteste Stadt Frankreichs. Die Bilder, die der Film von dieser einst wichtigsten Hafenstadt der Kolonialzeit gezeichnet hat, untersucht der Romanist Daniel Winkler.

Zwei Filme aus den 1970er Jahren schrieben für lange Zeit das Image von Marseille als Stadt der Mafia, der Prostitution und der Unterwelt fest: "French Connection" thematisierte anhand von Marseille die internationale Verstrickung von Politik, Rauschgift- und Waffenhandel; "Borsalino" konzentrierte sich auf das organisierte Verbrechen in der Stadt selbst. In zahlreichen weiteren französischen und US-amerikanischen Filmen, aber auch in der deutschen Tatort-Serie ist der Topos "Marseille als Hort der Kriminalität" seither immer wieder aufgegriffen worden.

Während (...) Paris als Stadt der Liebe gilt und mit hohem kulturellen Prestige belegt wird, dominieren im Fall von Marseille - abgesehen von einigen wenigen (Fussball-)Berühmtheiten wie Bernard Tapie oder Zinédine Zidane - vage negative Eindrücke, die das Bild einer unsicheren Stadt am Rande Europas zeichnen.

Das Bild der Stadt
Die Imagefrage zieht sich wie ein roter Faden durch Daniel Winklers Buch "Transit Marseille: Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole".

Dieses Image Marseilles' als Stadt mit geringem symbolischem Kapital (geht) weit hinter die Genese sowie den Boom des Marseiller Kriminalfilms zurück und (hängt) eng mit der Lage und dem politischen Status der Metropole in Frankreich zusammen.

Marseille mit seinen heute knapp 830.000 Einwohnern ist Frankreichs zweitgrößte Stadt. Seit der Erfindung des Films durch die Brüder Lumière am Ende des 19. Jahrhunderts gibt es Streifen über Marseille. Zunächst sind sie eher dokumentarischer Natur, dann folgen einige wenige Avantgarde-Filme, die in Marseille angesiedelt sind.

Die Stadt, die so nie war
Daniel Winkler sieht ab den 1930er Jahren eine Bipolarität in der Darstellung, von Kriminalfilmen einerseits und einer aus der provenzalischen Theatertradition herrührenden Komödienform, die Marseille eher als Dorf zeigte, obwohl die Stadt aufgrund des Hafens vielmehr eine eine internationale Metropole, mehr noch als heute, war.

Das Verhältnis zwischen Marseille und Paris war stets von wechselseitigem Misstrauen geprägt. Die Machtansprüche des Zentrums stießen im Lauf der Jahrhunderte regelmäßig auf den rebellischen Geist der Peripherie. Daniel Winkler zeichnet diese Geschichte lebendig nach. Sein Buch wird damit über eine Filmanalyse hinaus zu seiner spannenden Kulturgeschichte der Stadt.

Implizit oder explizit spielt der Kontrast zwischen Marseille und Paris in vielen Filmen eine Rolle. Beschworen hat diesen Unterschied auch der Schriftsteller und Dramaturg Marcel Pagnol, der beide Städte gut kannte, Marseille als Schauplatz für einige seiner Theaterstücke wählte und damit eine regelrechte vague méridionale, eine südfranzösische Welle vor allem bei Musik- und Operettenfilmen losgetreten hat.

Das dritte Genre
Krimis und Musikfilme sind zwei wichtige Genres, die mit Marseille verbunden sind. Das dritte Genre ist das so genannte cinéma engagé, also Filme mit sozialkritischem oder politischem Inhalt. Hier lässt sich eine Reihe von Filmen von Robert Guediguian einordnen, eines französischen Regisseurs deutsch-armenischer Herkunft. Dazu gehört der Streifen "La ville est tranquille", wörtlich: die Stadt ist ruhig, der in der deutschen Fassung den Titel "Die Stadt frisst ihre Kinder" hat.

Der Film, so Daniel Winkler, zeige die fragmentarische Struktur der Stadt mit ihrem bürgerlichen Süden und dem von Arbeitslosigkeit gebeuteltem Norden. Der Film bezieht auch lokale und regionale Kultur mit ein, darunter HipHop Bands und Bewohner der so genannten Quartiers Nords.

Modernisierung à la Marseille
Der Film aus dem Jahr 2000 beschreibt ein Stadtgefühl, das inzwischen aber in Veränderung begriffen ist. Man will die gesamte Hafenlandschaft umgestalten, den Kreuzfahrttourismus fördern und über ein Projekt, das sich Euro-Mediterannée nennt, ein großes Sanierungsprogramm der Innenstadt voranbringen.

Dieser Versuch der Verbürgerlichung, das Ansiedeln von Kulturstätten wird, so ist Daniel Winkler überzeugt, gleichermaßen eine Radikalisierung der Verhältnisse mit sich bringen, "weil die Jobs, die auf diese Weise geschaffen werden, Jobs für gebildete Leute von außen sind", während das durchschnittliche Bildungsniveau in der Arbeiterstadt Marseille eher gering ist.

Daniel Winklers Buch verfolgt das Filmgeschehen bis ins Jahr 2005. Alte Bilder sind hartnäckig, daher werden weiterhin Krimis und folkloristische Filme in der Stadt angesiedelt. Doch um die Millenniumswende lassen sich einige Veränderungen in der Wahrnehmung von Marseille feststellen. Die Vielschichtigkeit der Stadt, ihr multikultureller Charakter, aber auch Fragen der Marginalisierung rücken stärker ins Blickfeld. Das wachsende Interesse von Filmemachern an der Stadt lässt nach Ansicht von Daniel Winkler auf eine neue Dynamik hoffen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Daniel Winkler, "Transit Marseille: Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole", Transcript Verlag

Link
Transcript Verlag - Transit Marseille