Unheroischer Interpretationsansatz

Wagners "Ring" entschlackt

Eine CD-Neueinspielung von Wagners "Ring des Nibelungen" aus dem Musiktheater Amsterdam versucht, auch den vom Komponisten nicht in den Partituren notierten, nur mündlich gegebenen Vortragsanweisungen gerecht zu werden.

Ausschnitte aus "Walküre" und "Götterdämmerung"

Auf den CD-Boxen des von Hartmut Haenchen geleiteten "Rings" ist zu lesen: "Erste Aufnahme entsprechend der Neuen Richard Wagner-Gesamtausgabe". Was bei Belcanto-Opern mit ihrem oft viel weniger aufwendigen Orchesterapparat längst zum guten Ton gehört, die Erstellung und Verwendung "historisch-kritischer" Noteneditionen, beginnt allmählich auch bei Richard Wagner.

Man geht an die Überlieferungs-Quellen, macht Zusätze und Veränderungen, die nach Wagners Tod angebracht wurden, als solche kenntlich. Oft ist die Quellenlage schlecht: Etliche von Wagners Partitur-Autografen wurden zur Zeit der NS-Diktatur auf höchsten Wunsch aus den Bayreuther Archiven entwendet, Adolf Hitler zum Geschenk gemacht, lagerten lange im Berliner Führerbunker und wurden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs Richtung Süden verschleppt, möglicherweise nach Südtirol. Dort verliert sich ihre Spur.

Pionier-Interpret Hartmut Haenchen

Die Erwartungen sind dennoch groß, im Zuge der Neuedition auch einen neuen Richard Wagner hörbar zu machen; dass sich gerade Hartmut Haenchen, der sich lange mit barocker und vorklassischer Musik befasst hat, als Pionier-Interpret hervortut, ist kein Zufall.

Haenchen war in Bayreuth Assistent von Pierre Boulez, er eifert dem Boulez’schen Klang- und Tempo-Ideal nach: Auch bei Wagner soll leicht, fließend musiziert werden, nicht dick, massiv, behäbig. Ein "ausgeputztes" Notenmaterial - der erste Schritt in diese Richtung. Aber kann es in den Opernhäusern von heute, mit den Orchesterinstrumenten von heute, für die auf große Lautstärken getrimmten Ohren von heute wirklich gelingen, Wagner so zu entschlacken, wie Hartmut Haenchen es sich vorstellt?

Faszinierende Äußerungen zur "Ring"-Uraufführung

Die Assistenten des "Meisters", darunter die bedeutenden Wagner-Dirigenten Felix Mottl und Hermann Levy, haben bei den von Richard Wagner szenisch geleiteten Bayreuther Proben für den "Ring" akribisch alle musikalischen Bemerkungen von ihm mitgeschrieben, und Hartmut Haenchen hat nachgezählt. 715 authentische Äußerungen sind aus den 1880er Jahren auf diese Weise für "Walküre" und "Siegfried" überliefert. In 208 davon wollte Wagner ein schnelleres Tempo, als der am "grünen Hügel" beschäftigte Dirigent Hans Richter es anschlug. Allein 36mal forderte Wagner "niemals schleppend". "Immer vorwärts!", "Sehr fließend!", Keine Arie!" heißt es auch. Ein faszinierendes Kapitel Interpretationsgeschichte, passend zum überlieferten Faible Richard Wagners für "italienische" Stimmen. Er hat seine Musik innerlich offenbar stets "in straff vordringendem Zeitmaß" gehört, "immer erzählend", "niemals schleppend".

Man findet auch ausführlichere Anweisungen Wagners wie: "Alle Tempomodifikationen genau beachten, jedoch in langsamen Stellen nie soweit gehen, dass das Gefühl verweilender Ruhe sich erzeuge." Wenn vom Komponisten feine Tempomodifikationen verlangt werden - manchmal wünscht er sich Rubati, die nicht notiert sind, die "sprechende" Schwerer-Gewichtung nur eines Takt-Teils -, dann entweder um musikalische Bilder noch plastischer zu malen oder um der Text-Artikulation zu folgen, die ihm stets vor allem anderen wichtig war. Der Wagner-Satz: "Wenn ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt, müsste das 'Rheingold' in zwei Stunden fertig sein", ist vielleicht nicht buchstabengetreu zu nehmen - heutige Aufführungsdauer des "Ring"-Vorabends: zwischen zwei Stunden 25 und zwei Stunden 40 -, aber als Denkanstoß.

Gute Ideen, mäßige Ausführung

Eine fantastische Idee von Hartmut Haenchen, dieses Kompendium an Wagner-Zitaten für die Interpretation des "Rings" zu verwenden, zusätzlich zum neuen Notenmaterial, das in der aktuellen Wagner-Gesamtausgabe ebenfalls alle Quellen korrekt erschließt - nur: man hört davon bei den Aufnahmen unter Haenchens Leitung so gut wie nichts. Alles, was im Orchester an Ungewöhnlichem vor sich geht, bewegt sich im Rahmen dessen, was man als "Nuance" auch von anderen Dirigenten bereits serviert bekommen hat.

Auch Haenchens Tempi bewegen sich im Mittelfeld des heute Gewohnten. Und es gibt mehr als nur einen Wermutstropfen in der neuen Amsterdamer Gesamtaufnahme: Wenn schon solches Quellenstudium betrieben wurde, wieso endet das Es-neu-machen-Wollen bei den Solisten? Warum gelingt es nicht ein einziges Mal, die Sängerinnen und Sänger zumindest für eine Weile von ihrer Über-Lautstärke wegzubringen - und hin zu einem "schlankeren" Singen, das auch die Worte leben lässt? Darf man von diesem Ideal nur träumen? Für künftige "Ring"-Dirigenten bleibt jedenfalls noch viel zu tun.

Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 17. April 2008, 15:06 Uhr

CD-Tipp
Richard Wagner, "Der Ring des Nibelungen", Het Muziektheater Amsterdam / De Nederlandse Opera 2004/5, Hartmut Haenchen, Et'cetera

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De Nederlandse Opera