Eine vom Untergang bedrohte Kultur
Auf Wiedersehen, Tibet
Erschütternde Bilder haben Maria Blumencrons Aufmerksamkeit für Tibet geweckt, Bilder von erfrorenen Kindern im tibetisch-nepalesischen Grenzgebiet. Sie waren auf der Flucht ums Leben gekommen. Blumencron flog nach Lhasa, um mehr zu erfahren.
8. April 2017, 21:58
Maria Blumencrons über Tibets Kinder
Im Frühjahr 2000 kämpften sich Dhondup, Dolkar und vier weitere Kinder, das jüngste gerade mal sechs, über die eisigen Pässe des Himalaya. Sieben Jahre später waren es Lothen, Wanglo und drei weitere Jungs, die auf ähnlicher Route ihre Heimat verließen.
Jedes Mal war ein Fluchthelfer mit von der Partie - und jedes Mal war auch Maria Blumencron dabei. Sie unterstützte die jungen Tibeter, begleitete sie ein Stück weit - und filmte ihre abenteuerliche Flucht. Denn Maria Blumencron ist Dokumentarfilmerin und Journalistin. Ihr Thema: junge Tibeter auf dem Weg ins Exil, auf dem Weg der Armen unterwegs nach Indien, zu den Schulen des Dalai Lama - in eine vermeintlich bessere Zukunft.
Wunde Gefühle
"Ich bin keine Tibetspezialistin. Ich bin in dieses Thema reingestolpert, und dieses Thema hat mein Leben maßgeblich verändert", verrät Blumencron. "Ich habe nie daran gedacht, ich gehe jetzt auf Abenteuer. Ich sehe auch nicht unbedingt die Faszination der Berge oder die Schönheit der Landschaft. Was mich interessiert hat sind die Geschichten der Menschen in Tibet. Oben im Grenzgebiet, da sind die Geschichten noch frisch, da sind die Gefühle noch wund. Deswegen bin ich so eine Art Grenzgängerin geworden."
Erschütternde Bilder haben Maria Blumencrons Aufmerksamkeit für Tibet geweckt, Bilder, die vor zehn Jahren in deutschen Medien kursierten. Im tibetisch-nepalesischen Grenzgebiet fotografierte ein Bergsteiger erfrorene Kinder. Sie waren auf der Flucht ins Exil ums Leben gekommen. Maria Blumencron, damals noch Schauspielerin, flog nach Lhasa, um mehr über die Hintergründe erfahren.
Flucht nach Indien
Seit der Besetzung Tibets durch China Anfang der 1950er Jahre und vor allem seit dem gescheiterten Volksaufstand im März 1959, als der Dalai Lama aus seiner Heimat floh, haben über hunderttausend Tibeter ihr Land verlassen, die meisten in Richtung Indien. Dort errichtete der Dalai Lama schon in den frühen 1960er Jahren mit Hilfe von Spendengeldern aus dem Westen Kinderdörfer mit Schulen. Ein Grund, warum nicht nur Mönche, Nonnen und Pilger Tibet verlassen, sondern in großer Zahl auch Kinder und Jugendliche.
"Ein Kind aus der Familie wegzuschicken hat eine gewisse Tradition in Tibet", berichtet Blumencron. "Die Kinder, die ins Kloster geschickt werden, sind auch oft nicht älter als sechs Jahre alt, und die Klöster weit entfernt von dem Ort, wo die Familien wohnen."
Preisgekrönter Film
"Auf Wiedersehen, Tibet" ist nicht Maria Blumencrons erste Auseinandersetzung mit dem Schneeland. Vor acht Jahren entstand ihr preisgekrönter Film "Flucht über den Himalaya", später folgte ein gleichnamiges Buch. Ihr neues Buch fasst ihre beiden Himalaya-Expeditionen von 2000 und 2007 zusammen. Kein Sachbuch, sondern sehr subjektive Aufzeichnungen, in denen die Autorin auch ihr Seelenleben offenbart und Auskünfte über ihre Familienverhältnisse gibt - letzteres wäre verzichtbar gewesen. "Auf Wiedersehen, Tibet" ist dennoch über weite Strecken eine packende Geschichte, lebendig erzählt und mit großer Sympathie für die Protagonisten.
Blumencron berichtet von streikenden Filmkameras und abgebrochenen Expeditionen, von weinenden Müttern und verzweifelten Flüchtlingen, von zudringlichen Yak-Nomaden und aufopferungsvollen Führern, von Verfolgungen und Verhören durch die chinesische Polizei, von Hunger und Erfrierungen, Gebeten und Ritualen. Und sie lässt im ersten und stärksten Teil ihres Buches einen Khampa-Tibeter sein Leben erzählen, der als berühmter Fluchthelfer schon fast eine Legende ist: Kelsang Jigme.
Anlauf in Richtung Grenzpass
"Für mich hat Kelsang Jigme immer das alte Tibet repräsentiert - und auch die Grausamkeiten des alten Tibet. Es gab vieles, was die Menschen auf sich nehmen mussten", so Blumencron. "Die Khampa-Tibeter waren die, die beim Einmarsch der Chinesen in den Widerstand gegangen sind. Und auch Kelsang Jigme sagt, ich werde mich nie beugen."
Kelsang Jigme beugte sich auch nicht der chinesischen Polizei, die ihn Ende 1999 fasste und fast zweieinhalb Jahre festhielt und folterte. Er wollte Maria Blumencron und ihr Filmteam zusammen mit Flüchtlingskindern durch das Himalaya-Gebiet lotsen. Jahre später beschließen der Führer und die Autorin, noch einmal einen Anlauf in Richtung Grenzpass zu machen, dort hissen sie eine Gebetsfahne und treffen die jungen, schneeblinden Flüchtlinge Lothen, Wanglo & Co. Doch Maria Blumencron geht es nicht nur um Abenteuer in Eis und Schnee. Sie hat den Verein "Shelter108" zur Projekthilfe und Vermittlung von Patenschaften gegründet, hilft ein Kinderdorf zu errichten und kümmert sich um die, die sie bei der Flucht aus Tibet traf.
Jedes Kind, das Tibet verlässt, ist Hoffnungsträger einer vom Untergang bedrohten Kultur, sagt Maria Blumencron. Die 43-jährige Österreicherin ist so etwas wie eine Botschafterin Tibets. Gemeinsam mit tibetischen Freunden präsentiert sie nun ihre Tibet-Erfahrungen auf einer Tournee mit Lesung, Filmausschnitten und Musik. Sie macht auf ihre ganz persönliche Weise auf ein Land und seine Lage aufmerksam, auf das inzwischen die ganze Welt blickt.
Illegale Ausreise scheint heute unmöglich
Jahr für Jahr waren es mehr als 2000 Tibeter, die aus ihrem Land flüchteten, seit den Todesschüssen chinesischer Grenzpatrouillen 2006 aber ging die Zahl drastisch zurück, seit den Unruhen im vergangenen Monat und der Verstärkung der chinesischen Militärpräsenz scheint eine illegale Ausreise unmöglich. Vielleicht ist die von Maria Blumencron gegangene Route um das Dach der Welt längst Geschichte. Vielleicht aber kommt doch Bewegung in die Tibet-Frage und sorgt dafür, dass es auch für die engagierte Autorin ein "Auf Wiedersehen" in Tibet gibt.
"Ich habe Tibet nur ein einziges Mal gesehen, das war 1999, und dann bin ich verhaftet worden. Ich würde so gerne mal den Berg Kailash umrunden. Ich würde so gern mit den Kindern an ihre Plätze gehen", wünscht sich Blumencron.
Wenn wir groß sind, gehen wir zurück nach Tibet und zeigen dir unsere Dörfer, versprachen Dhondup, Dolkar und die anderen. Das wäre wunderbar, sagt Maria Blumencron. "Das wäre wunderbar, wenn das einmal wahr werden könnte."
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Buch-Tipp
Maria Blumencron, "Auf Wiedersehen, Tibet. Auf der Flucht durch Eis und Schnee", Dumont Verlag