Wehmütige Rückschau
Die Zwillinge
Eine ganze Generation erinnert sich in diesem Mai an die wilden 68er, so auch Jutta Winkelmann und Gisela Getty, die das Lebensgefühl von damals möglichst authentisch wiedergeben wollten - in zwei Biografien, die von Jamal Tuschik abgeglichen wurden.
8. April 2017, 21:58
Schon der Klappentext dieser Biografie reicht, damit einem wieder so richtig klar wird, wie langweilig das eigene Leben ist. Von Mafiabossen, High Society, ausschweifender Selbstfindung und texanischen Milliardären mit abgeschnittenen Ohren ist da die Rede und auf Seite zwei sind sie dann auch abgebildet: die berühmtesten Zwillinge der 68er Bewegung. Melancholisch und liebreizend, umarmt von ihrem sommersprossigen Seelenfreund Paul Getty.
Zwei Blickwinkel
Eine ganze Generation erinnert sich in diesem Mai an die wilden 68er, so auch Jutta Winkelmann und Gisela Getty, die das Lebensgefühl von damals möglichst authentisch wiedergeben wollten. Was dabei im Text verloren ging, ist die Distanz zum Geschehen aus heutiger Sicht. Winkelmann und Getty haben ihre Erinnerungen getrennt voneinander aufgeschrieben, ein dritter Autor, Jamal Tuschik, montierte die Passagen. So wird fast jede Episode aus zwei Blickwinkeln geschildert, der Unterschied ist gering, denn das symbiotische Lebensgefühl der beiden Autorinnen überwiegt meistens. Was die 400 Seiten lesenswert macht, ist die Schilderung eines exzessiv gelebten Experiments.
Das 68erGebot schlechthin: "Rebelliere gegen deinen Vater", konnten die Zwillinge leicht erfüllen, denn sie wurden Ende der 1940er Jahre in Kassel als Töchter eines ehemaligen NS-Offiziers geboren. Die süßen Mädchen zogen gleich alle Aufmerksamkeit auf sich und schnell war das Gefühl da, etwas Besonderes zu sein, auserwählt - keine schlechte Vorraussetzung für zukünftige Blumenkinder. Kassel war jedenfalls nicht der ideale Platz zur Entfaltung von Auserwählten und so traten sie mit Bob Dylans musikalischer Unterstützung ihre Mission an: Wo immer sie auftauchten - Berlin, Rom, München, Los Angeles, San Francisco -, die Zwillinge waren die ideale Verkörperung des Zeitgeists, noch dazu im Doppelpack: sexy, androgyn, neugierig und meistens mit einem Palästinensertuch als Minirock bekleidet. Ein politisches Symbol zu einem modischen zweckentfremdet - das ist symptomatisch für ihre Art, die Welt wahrzunehmen.
Ein irres Abenteuer
Egal ob es um Arbeiterbefreiung, APO, RAF, Mao oder Che Guevara ging, für die Zwillinge war das alles letztlich eine Frage von Sexyness und Hingabe, ein irres Abenteuer, in dem sie die Hauptrolle spielen wollten. Vom Vorhaben, "schöne ernsthafte Widerstandskämpferinnen zu werden", bis zur langen Liste der gebrochenen prominenten Männerherzen - ein Leben wie ein Filmdrehbuch. Diese spezielle Wahrnehmung ihrer Umwelt lässt die Zwillinge auch Krisen wie Drogenabstürze, Unfälle, Abtreibungen oder Gewalt mit naiver Arglosigkeit beschreiben.
Das narzisstische Spiel, nicht nur in sich selbst, sondern auch in das ebenbürtige Gegenüber verliebt sein zu können, ermöglichte den Zwillingen ein überbordendes Selbstbewusstsein. Diese Art der Autonomie hinderte sie allerdings nicht daran, doch immer wieder die Körperkarte zu ziehen. Die meisten Männer verliebten sich ohnehin auf Anhieb in beide Mädchen gleichzeitig. Die Liste der prominenten Begegnungen ist lang: Frederico Fellini, Chris Kristofferson, Joe Cocker, Dennis Hopper, Paul Getty, Bob Dylan undsoweiter.
Streben nach Frauenfreiheit
Ganz anti-hippiemäßig fühlten sich die Zwillinge aber auch oft von besonders gefährlichen Machos und deren Gewaltfantasien angezogen. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage nach dem Wert einer solchen Frauenfreiheit, in der sich das gesamte Wollen und Streben nicht auf das eigene Ich bezieht, sondern letztlich doch nur wieder im Hinblick auf starke Männerpersönlichkeiten konstruiert und definiert ist. Aber damals, als selbst linke Kreise von selbstbestimmten Frauen noch nichts wissen wollten. war dieser Schritt aus der bürgerlichen familiären Enge zumindest mutig und aktiv; konsequenter allemal als die aktuelle Inflation der Societymagazin-Leser und -Leserinnen, die sich für 2 Euro 50 ein bisschen Fremd-Glamour auf die gemütliche Wohnzimmercouch holen.
Es musste diese Aufbruchstimmung, diese Entdeckung des Ichs sein, das war für die Zwillinge zu der Zeit das Wesentliche. Der Entdeckung des Ichs wurde mit vielen chemischen Substanzen nachgeholfen und nach unzähligen Partys, Liebesnächten, Drogenexzessen und Abenteuern verlor sich langsam die Dynamik und die Anfangsbegeisterung für das antibürgerliche Weltveränderungsexperiment.
Der "Sieg der Materie"
Als dann in den 1970er Jahren der "Sieg der Materie", wie Jutta Winkelmann wehmütig auf den letzten Seiten des Buches schreibt, das kurze Zeitfenster der Rebellion langsam schließt, wird es immer wichtiger, Mittel und Wege zu finden, um an der Utopie auf einer anderen Ebene weiterzuarbeiten. Heute leben Jutta Winkelmann und Gisela Getty gemeinsam mit Rainer Langhans und anderen Mitgliedern in einer haremähnlichen Wohngemeinschaft in München.
Hör-Tipps
Ex libris, Sonntag, 4. Mai 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Radiokolleg, Montag, 5. bis Donnerstag, 8. Mai 2008, 9:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Jutta Winkelmann, Gisela Getty, Jamal Tuschik, "Die Zwillinge oder Vom Versuch Geist und Geld zu küssen", weissbooks
Link
weissbooks - Die Zwillinge