Die politische Seite des Jazz
Der Jazz der 1960er Jahre
Free Jazz und Soul Jazz waren die bestimmenden Jazzrichtungen der 1960er Jahre. Die sozialen Hintergründe beider Stile sind dieselben: ein neues schwarzes Selbstverständnis und -bewusstsein, das seinen Ursprung in der Bürgerrechtsbewegung hat.
8. April 2017, 21:58
"Es ist Zeit, mit dem Singen aufzuhören und stattdessen mit dem Swingen zu beginnen", sagte der Bürgerrechtskämpfer Malcolm X im Rahmen seiner berühmten Rede "The Ballot Or The Bullet" ("der Stimmzettel oder die Gewehrkugel") am 12. April 1964 in Detroit.
Das Element des Swing ist die afroamerikanische musikalische Errungenschaft schlechthin, in so ferne sind diese Worte für den Jazz der 1960er Jahre programmatisch. Denn dass die politische und gesellschaftliche Situation in den USA die Entwicklung des Jazz in jener Zeit wesentlich beeinflusst hat, ist evident.
Semper Malcom
Zu jenen Musikern, die die politische Dimension ihrer Musik am stärksten herausstrichen, zählte der Saxophonist Archie Shepp. Auf seiner LP "Fire Music" aus dem Jahr 1965 findet sich der Titel "Malcolm Malcolm, Semper Malcolm", aufgenommen wenige Wochen nach der Ermordung des Bürgerrechtlers.
Archie Shepp schreibt dazu selbst in den Linernotes der LP: "Ich glaube an die Unsterblichkeit von Malcolm X. Malcolm wusste, was es bedeutete, in Amerika ein Gesichtsloser zu sein, und er hatte dieses Gefühl satt."
Orval Faubus
Eine andere Anklage gegen den Rassismus im Amerika der damaligen Zeit ist "Fables Of Faubus" des Bassisten Charles Mingus. Der in dem Stück angesprochene Orval Faubus hatte 1957 als Gouverneur des Bundesstaates Arkansas die Nationalgarde aufgeboten, um einige afroamerikanische Kinder am Betreten einer per Bundesgesetz auch ihnen offenen stehenden Schule zu hindern und konnte erst von Präsident Eisenhower mit Bundestruppen zur Räson gebracht werden.
Die Textzeile: "Warum ist Faubus so krank und lächerlich" erschien den Verantwortlichen von Columbia Records, wo Mingus damals unter Vertrag war, zu riskant, deswegen wurde das Stück 1959 zunächst ohne Text aufgenommen, erst ein Jahr später, 1960, gelang es Mingus, seine Komposition mit Text auf einem kleinen Label herauszubringen.
Mingus' zentrales Werk
Die LP, auf der diese Version von "Fables Of Faubus" zu finden ist, heißt "Charles Mingus presents Charles Mingus" und zählt zu den zentralen Werken des Bassisten. Denn hier komme am klarsten eine gewisse Vorreiterrolle von Charles Mingus für die Entwicklung des Free Jazz der 1960er Jahre zum Tragen, sagt der deutsche Jazzforscher Ekkehard Jost, denn "die traditionelle Rollendefinition von Rhythmus und Melodiegruppe werde in einer Weise aufgehoben, wie dies zur gleichen Zeit nicht einmal im Quartett des exponiertesten Vertreters des Free Jazz, Ornette Coleman, der Fall gewesen sei".
Die LP "Free Jazz" von Ornette Coleman, erschienen 1960, sei eigentlich gar kein freier Jazz, sagt Ekkehard Jost, der über diesen Stil "Free Jazz" ein Buch mit mehreren Stilanalysen geschrieben hat. Denn in der Musik dieser Platte "gäbe es eine eindeutige und ziemlich schematische Binnengliederung, es gäbe das Festhalten weitgehend an einem Fundamentalrhythmus, man könnte auch eigentlich eine Time rausfinden, also so frei sei die Musik dieser Ornette-Coleman-LP eigentlich nicht gewesen, wenn man den Begriff 'frei' absolut nimmt".
Keine Tabuzonen bei Davis
Jost stellt die für die Jazzgeschichtsschreibung ziemlich gewagte These auf, dass die Musik des Miles Davis Quintetts der 1960er Jahre mit Wayne Shorter und Herbie Hancock per definitionem viel freier gewesen sei, denn "bei Davis hätten Vermeidungsstrategien keine Rolle gespielt. Niemand habe gesagt: Wehe du spielst da einen C-Dur-Akkord, dann fliegst du raus. Diese Tabuzonen, die habe es bei Davis nie gegeben. Da konnte eigentlich alles passieren".
Die damalige Musik von Miles war hervorragend und sie passte in die Zeit, aber eines war sie nicht: Sie war absolut nicht politisch, und das unterschied sie merkbar von den Werken vieler anderer Musiker jener Zeit. Musikerkooperativen wie die Jazz Composers Guild in New York oder die AACM in Chicago protestierten gegen die Negierung des "New Thing", des Free Jazz durch den etablierten Musikbetrieb protestierten, das Aushängeschild der AACM, das "Art Ensemble Of Chicago", wies außerdem verstärkt auf das schwarze Element des Jazz hin.
Der Saxophonist Albert Ayler stellte seine Musik unter das Motto "We Play Peace" und schuf mit "New York Eye And Ear Control" (1964) sowie "Spiritual Unity" (1965) zwei der spannendsten LPs der Dekade.
Hymnische Monumente an Spiritualität
In diesen Jahren 1964 und 1965 entstanden auch "A Love Supreme" beziehungsweise "Ascension", zwei der bedeutendsten Platten von John Coltrane, beides hymnische Monumente an Spiritualität, "Ascension" war zusätzlich John Coltranes Schritt zum "Free Jazz" (die Musik der LP ist auch in seiner Machart mit jener der Platte "Free Jazz" von Ornette Coleman vergleichbar).
Von Coltrane stammt aber auch eine weitere bittere Anklage wider den Rassismus in den USA: "Alabama"; geschrieben 1963 nach dem Tod von vier afroamerikanischen Kindern durch eine Bombe in diesem Bundesstaat. "Ich konnte nicht anders", sagte Coltrane damals zu diesem Stück.
Hör-Tipp
Radiokolleg - Freiheit und Seele, Montag, 5. Mai bis Donnerstag, 8. Mai 2008, 9:45 Uhr