Erinnerungen an '68

Mein Vater, mein Herr, mein Eierbär

Schön, dass wir an das Jahr 1968 denken. An das Jahr, das an den meisten Österreichern spurlos vorübergegangen ist. Macht nichts. Die Herrschaft der Väter hätte sowieso keinen Bestand gehabt. Weil es sie eigentlich gar nie gab.

Geschichte ist machbar! Ja, danke Rudi, danke Leute von 68! Geschichte ist kein Schicksal und kein Bandscheibenvorfall, weiß ich selber. Die Zeit vergeht, aber Geschichte passiert nicht.

Im Mai '68, als irgendwo in Berlin der Student und spätere Schriftsteller Peter Schneider behauptete, es sei nötig, gegen selbsternannte Herren der Welt und eine feige Obrigkeit zu rebellieren, riss mein Bruder einmal mehr von zu Hause aus und trug meine Mutter stumm eine weitere Schwangerschaft vor sich her. Mein Vater stopfte wortlos das Essen in sich hinein, das seine Mutter ihm zubereitete. Alsbald fand sein schwacher Geist in einer Masse aus hundert Kilo mehr oder weniger formlos zusammengehaltenen Fetts eine Bettstatt. Sein Wille blieb darunter begraben.

Ich erinnere mich noch heute mit Schrecken an die Einsamkeit, die einen im Haus der Großeltern umfing, selbst wenn man hätte meinen können, das Haus wäre belebt wie ein Bienenstock. Die Mutter in der Küche, auf der kahlen Bühne ihres Lebens, stumm; die Großmutter im Garten, dessen Erträge ausgereicht hätten, um zwanzig Esser vom Schlag meines Vaters satt zu machen, stumm; der Vater im Schlafzimmer, wo er die Ernte der Großmutter zu verdauen pflegte, stumm; und der Großvater im sogenannten Wohnzimmer - in dem allerdings nie gewohnt und deshalb winters nicht geheizt und sommers nicht gelüftet wurde - auf dem Sofa mit dem ockerfarbenen Schonbezug, seine Pfeife rauchend, und stundenlang in die Betrachtung der leblosen Armee böhmischer Porzellanpierrots auf polierten Schränkchen und Tischchen versunken. Auch er stumm. Alle waren sie auf dem Sprung hinaus aus dem Leben. Aber am Ende sind sie an sich selbst abgeprallt, als würden sie gegen Gummiwände laufen. Das Entsetzen darüber, scheint mir, wenn ich mir ihre Gesichter vergegenwärtige, spiegelte sich in ihren Augen.

Geschichte ist machbar, sicher. Auch wenn man das Gegenteil von Revolte will, muss man etwas dafür tun. Nichts ist mühsamer zu erreichen als der Stillstand, der Tod im Leben.

Noch mehr Mut, als gegen die Obrigkeit zu rebellieren, gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen, sagte Peter Schneider. Aufzustehen und zu sagen: "Ihr spinnt doch! Ihr seid verrückt geworden!" - wenn ebendies der Fall ist. Bekanntlich ist die Welt alles, was der Fall ist, und alles, was oben ist, ist gleichermaßen ein Fall für die Revolte, egal ob innerhalb oder außerhalb der Gruppe. Es heißt, dass alles, was oben ist, das patriarchale Prinzip repräsentiert, die Stammesführer und Erzväter, die dem Volk (Frauen und Kindern) die Richtung weisen. Aber war mein Vater je ein Stammesführer? Oder mein Großvater gar richtungsweisend? Bin ich je irgendwem begegnet, zu dem ich aufgeblickt habe? Warum hätte ich das tun sollen?

Um gegen die Väter oder die Alphatiere - oder wie immer man dazu sagen möchte - zu rebellieren, bedarf es keinerlei Muts. Man muss sich im Alltag nur im Klaren sein: Vorgesetzte sind manchmal lächerlich, Hierarchien sind es meistens und Autoritäten sind es immer. Das liegt an dieser Vorstellung vom strengen und/oder gütigen Vater, die allen uns bekannten Machtkonstellationen innewohnt. Das ist insofern eine unfreiwillig komische Vorstellung, als wir kulturgeschichtlich keine klare Idee des Vaters festmachen können. Biologisch betrachtet ist er notwendig, um die weibliche Eizelle zu befruchten. Darüber hinaus ist seine Stellung eher dubios.

Warum Macht männlich sein soll, können nicht einmal die Exegeten der monotheistischen Religionen erklären. Tun sie auch nicht, sie behaupten es einfach. Wenn Gott der HERR allmächtig ist und sich darüber hinaus als Vater eines Sohnes bezeichnen lässt, dann kann man schon einmal auf den Gedanken kommen, Glaubensangelegenheiten auf das soziale Gefüge der Menschheit herunterzubrechen. Verkleinert man Gott, dann wird daraus der Herrscher, staucht man den Herrscher zusammen, dann wird daraus der Vater: eine Schrumpfgestalt also, die sich irgendwann im Laufe der Menschheitsgeschichte selbst dazu ermächtigt hat, jenseits aller Notwendigkeit Führungs- und Kontrollaufgaben zu übernehmen.

Wie gesagt, Väter und ihre Äquivalente in allen Bereichen, die unser Leben strukturieren, sind mehr oder weniger große Lachnummern, wenn sie nicht nutzlos in der Gegend herumstehen wollen: siehe die große und die kleine Politik oder die Führungsetagen der Unternehmen. Nur im allerkleinsten Rahmen, der Familie, kann's gefährlich werden, denn kein Ort repräsentiert die väterliche Macht besser als der Keller, die letzte Bastion der Testosteronmaschine, die sich dort ein Denkmal für ihre Niederlage errichtet. Geschichte ist machbar – und wenn es sich auch bloß um Kriminalgeschichte handelt.

Deshalb bin ich ein Anhänger des Vatermords. Ich finde, nichts ist befreiender, als wenn die Gestalt, die einem die Sicht verstellt und überflüssigerweise auch noch einen langen Schatten wirft, aus dem Weg geräumt ist, ehe sie Schaden anrichtet. Ich spreche von Männern, die nichts repräsentieren als ihr Geschlecht und die damit verbundene Tradition der Autoritätsanmaßung.

Wir haben gelernt ohne Gott zu leben, wir haben gelernt, ohne Herrscher zu leben, wir werden auch noch lernen, ohne Väter zu leben.

Hör-Tipp
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