Der Anthropologe Volker Sommer

Wir und andere Kulturwesen

Volker Sommer, in Holzhausen am Reinhardswald in Hessen aufgewachsen, lehrt evolutionäre Anthropologie am University College London. Großes Aufsehen erregte sein "Lob der Lüge", in dem er unter anderem den Beitrag der Lüge zur Evolution beschreibt.

Am University College London hat Volker Sommer einen Lehrstuhl für evolutionäre Anthropologie inne, für seine Doktorarbeit ging der mittlerweile 51-jährige Professor vor mehr als zwei Jahrzehnten nach Indien, um Tempelaffen zu studieren. Seit damals arbeitet der Wissenschaftler mit dem jugendlichen Auftreten mit Affen - beobachtet und erforscht sie und ihre Lebensweise. Volker Sommer studierte Biologie, Chemie und Theologie und betrieb anthropologische Forschungsprojekte rund um die Welt.

Aufklären, nicht verklären

Die Romantik und der Ruf Rousseaus "Zurück zur Natur!" führten in Europa zu einer "verklärenden" Sicht der Tiere: sie wurden idealisiert und es wurde außer Acht gelassen, dass im Tierreich so gut wie immer der Stärkere auf Kosten des Schwächeren überlebt.

Volker Sommer beobachtete in den 1980er Jahren in Indien, wie männliche Affen die Babys ihrer Konkurrenten umbringen, um mit den Äffinnen schneller eigenen Nachwuchs zeugen zu können. Zuerst war er fassungslos, dass die süßen Affenbabys von großen männlichen Affen umgebracht wurden und versuchte diese verzweifelt mit Kieselsteinen zu vertreiben, bis er resigniert - sich der Natur der Tiere beugend - sein Unterfangen aufgab.

Schimpansen leben in größeren Gruppen von bis zu 100 Tieren zusammen, sie sind allerdings nicht gemeinsam, sondern in kleinen Einheiten unterwegs, um Essbares zu besorgen. Und: Affen vertrauen ihren Blutsverwandten mehr als anderen Artgenossen. Die Primatologen konnten beobachten, dass Affen ihre Verwandten länger kraulen und dass nicht gleich ein "Gegenlausen" erwartet wird. Anders ist es bei Nicht-Familienmitgliedern: da wird kürzer gelaust und die Gegenleistung wird sofort eingefordert.

Auf einer Stufe mit dem Menschen

Wenn man Volker Sommer über seine Forschungen und Schlussfolgerungen, die er als evolutionärer Anthropologe zieht, erzählen hört, ist die Faszination, die Affen auf ihn ausüben, nicht zu übersehen. Auch weil sie mit dem Homo sapiens eng verwandt sind - bestimmte Gensequenzen stimmen bis zu 99,4 Prozent mit jenen des Menschen überein, zitiert Volker Sommer Ergebnisse der Forscher der Wayne State University Detroit.

Es gibt Genetiker, die sich dafür einsetzen, dass Schimpansen und Bonobos in die nur für Menschen bestimmte Gattung "Homo" aufgenommen werden. Denn: "Selbst der begnadetste Haarspalter muss bei 0,6 Prozent Unterschied einfach aufgeben, soll das System zoologischer Klassifikation nicht ad absurdum geführt werden", findet Volker Sommer und meint auch, dass das Urteil revidiert werden muss, dass die Menschen die einzigen Kulturwesen seien. Menschenaffen leben in hochkomplexen Gesellschaften, sie verfügen über eigene Traditionen, jagen, können Werkzeuge anfertigen und diese benutzen, sie können Nüsse knacken und sie können sich mit Zeichen, die Wissenschaftler für sie entwickelt haben, mit Menschen verständigen.

Der aktuelle "Menschenaffendiskurs" kann nicht losgelöst von seiner historischen Einbettung betrachtet werden. Dies bedeutet, dass es nach wie vor um eine Bestimmung der hierarchischen Ordnung in der Lebewesenwelt zu gehen scheint. Ist also der Mensch "das Maß aller Dinge"? Und kommen danach das Tier, die Pflanze und am Schluss dieser Kette das Anorganische? Fragen, die sowohl die Evolutionsbiologen als auch die Philosophen seit jeher beschäftigen, und die zur Kernfrage führen, ob höher entwickelte Tiere - wie z.B. Menschenaffen - Bewusstsein besitzen.

Die Bedeutung der Lüge

Die Menschenaffen haben eine Fähigkeit ausgebildet, die auch Menschen besitzen und die sie - manche öfter, andere selten bis nie - einsetzen: Affen können lügen. Sie können Strategien entwickeln, um ihre Feinde abzulenken und sie sind in der Lage - eine Folge dessen, dass sie lügen können - sich in andere hineinzuversetzen.

In seinem Buch "Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch" (München, C. H. Beck, 1992) zeigt Volker Sommer, wie Menschenaffen unter anderem andere täuschen, um sich die Existenzgrundlage zu sichern. So wird von einem älteren verletzten Affen berichtet, dem die Jüngeren sein Fressen weggenommen hatten, da er aber zu den Beschützern der Gruppe gehört, stößt er einen fingierten Alarmruf aus, sodass die jüngeren Affen auf die Bäume flüchten und er in Ruhe fressen kann. Für ihn eine Überlebensstrategie.

Menschenaffen haben Gefühle

Manchmal wirkt Volker Sommer resigniert, wenn er erzählt, wie Schimpansen in der Forschung für Versuche eingesetzt werden, wenn sie mit AIDS oder Hepatitis infiziert werden, wenn sie verkrüppelt oder in Einzelhaft gehalten werden, um ihr Verhalten zu beobachten. Die Affinität von Menschen und Affen impliziert auch eine emotionale Nähe: Menschenaffen haben Gefühle, sie können Schmerzen empfinden und mit anderen Kreaturen Mitleid haben.

So hat in einem amerikanischen Zoo eine Äffin ein Kind, das in das Affengehege gefallen war, aufgehoben und es zu den Wärtern gebracht, die zum Hintereingang gekommen waren. Affen können aber auch Menschen anschwindeln: Ein von Menschen trainierter Orang Utan gab durch Zeichensprache zu verstehen, dass er "aufs Klo" müsse. Nach einiger Zeit sind die Forscher draufgekommen, dass er eigentlich nicht auf die Toilette musste, sondern nur "herumgammelte", der Orang Utan wollte einfach in Ruhe gelassen werden.

Eigene Hilfsprojekte

Nach seinem Studium erhält Volker Sommer ein Stipendium der Alexander von Humboldt Stiftung und ein Heisenberg Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft und wird Privatdozent für Anthropologie und Primatologie an der Universität Göttingen. Volker Sommer führt Forschungen an der Universität Kalifornien durch, beschäftigt sich über mehrere Jahre hinweg mit Tempelaffen in Indien, Gibbons im thailändischen Regenwald und Schimpansen im Bergwald Nigerias. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten entstehen mehr als 100 Publikationen, er schreibt für Zeitschriften, verfasst auch belletristische Texte und ist ein gerngesehener Gast bei Podiumsdiskussionen, da er mit seinen Überlegungen und Thesen für Diskussionsstoff sorgt. Volker Sommer denkt nicht in Zeiträumen von Jahrzehnten oder Jahrhunderten, nein, ihm es geht um Jahrtausende, in denen sich die Welt verändert und gewandelt hat.

Auch wenn er selbst Hilfsprojekte für gefährdete Menschenaffen ins Leben gerufen hat, so etwa ein Projekt im westafrikanischen Staat Nigeria im Gashaka-Gumti National Park, sagt Sommer, dass die Artenvielfalt "nur" eine ästhetische Anschauung sei, weil es einfach für Menschen schöner wäre, mehr Abwechslung zu sehen. Die Natur an sich müsse sich nicht unbedingt über Vielfalt definieren, denn alles ist seiner Überzeugung nach permanentem Wandel unterworfen, und so kann es auch sein, dass dieser Wandel letztendlich das Ende unserer Zivilisation bedeuten wird.

Liste der Zerstörung

Andererseits weist er verzweifelt darauf hin, dass es in einiger Zeit kaum mehr wilde Menschenaffen geben werde. Schätzungen zufolge werden vielleicht 250.000 überleben und dies entspräche gerade der Einwohnerzahl einer Stadt wie Linz. Die Zerstörung der Lebensräume der Menschenaffen "dient" der Aufrechterhaltung und Sicherung der westlichen Konsumbedürfnisse und auch Volker Sommer sieht sich nicht "frei von Schuld", denn auch er nutzt das Handy und verschließt sich nicht dem so genannten westlichen Lebensstil.

Volker Sommer zählt auf, wo überall und aus welchen Gründen die Lebensräume der Menschenaffen zerstört werden: im Kongobecken werden die Edelhölzer abgesägt, um das Holz für Möbel zu nutzen, in Ruanda wurde der Virunga-Park dezimiert, um aus der Pyrethrum-Blume das Entlausungsmittel "Goldgeist" herzustellen. Im Niger-Delta werden Schimpansen von den Ölkonzernen ausgerottet und im zentralafrikanischen Kahuzi-Biega Nationalpark gab es noch vor fünf Jahren Tausende von Gorillas - mittlerweile wurden so gut wie alle aufgegessen, von Menschen die in diesem Gebiet illegal nach Coltan graben, einem Erz, das in Mobiltelefonen verwendet wird und auch in jener Satellitenanlage, die Volker Sommers Feldstation mit der Außenwelt verbindet. So wird jede SMS zu einem SOS.

Die berühmte britische Primatologin Jane Goodall hat vor mehr als vier Jahrzehnten den von ihr beforschten Schimpansen Menschennamen gegeben, Volker Sommer hat es umgekehrt gemacht: sein Sohn ist nach einem Menschenaffen benannt und heißt "Kalind".

PS: Es macht Affen überhaupt keinen Spaß in Fernsehshows aufzutreten - das Fletschen der Zähne, das manchmal als eine Art Zustimmung oder Lächeln interpretiert wird, ist ein Zeichen für Angst.

Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 18. Mai, 14:05 Uhr