Lücken in der Biografie
Verdrängung oder Verleugnung?
Man kann einen Mythos bestätigen oder fragen, wie er entstanden ist und wozu er dient. Im Fall von Igor Alexander Caruso, dem Gründer des "Wiener Arbeitskreises für Tiefenpsychologie", beginnen Historiker die Person kritisch zu hinterfragen.
8. April 2017, 21:58
Man weiß es nicht erst seit kurzem, sondern im Grunde seit Jahrzehnten: immerhin hat der charismatische "Psychologe" (wo hat er eigentlich Psychologie studiert?) und Psychoanalytiker (wo, bei wem hat er eine psychoanalytische Ausbildung gemacht?) Igor Alexander Caruso bereits 1979 - zwei Jahre vor seinem Tod - in einem Radiointerview "erwähnt", dass er 1942 "Am Spiegelgrund", in der Kindereuthanasieanstalt gearbeitet hat.
Aber niemand hat nachgefragt. Weder Historiker noch die Mitglieder der von Caruso gegründeten Arbeitskreise für Tiefenpsychologie, von denen der Wiener Arbeitskreis zwischenzeitlich in Arbeitskreis für Psychoanalyse umbenannt worden ist, und auch keine Journalisten.
Nun hat die Wissenschaftshistorikerin und Psychoanalytikerin Eveline List, die seit 2004 im Wiener Stadt- und Landesarchiv zugängigen psychologischen Gutachten, die Igor Caruso während seiner Tätigkeit am Spiegelgrund verfasst hat, aufgearbeitet und in der "Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis" publiziert.
Der Mythos Igor Caruso
Der charismatische Psychologe Igor Alexander Caruso ist nicht erst nach seinem Tod im Jahre 1981 sondern bereits zu seinen Lebzeiten zu einem Mythos geworden. Doch man könne einen Mythos bestätigen und fortschreiben oder fragen, wie der Mythos entstanden ist und wozu er dient, meint die Wissenschaftshistorikerin Eveline List im Bezug darauf, wie man die längste Zeit mit der Person Igor Caruso umgegangen sei.
Was man lange befürchtet habe, sei zur Gewissheit geworden, nämlich dass Igor Caruso in die Mordaktionen am Spiegelgrund verwickelt gewesen sei und dass manche Kinder wahrscheinlich ohne die in der Form verfassten Gutachten der Psychologen nicht getötet worden wären, sagt der Psychologe, Psychoanalytiker und derzeitige Vorsitzende des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse.
Nun müsse man sich der Diskussion stellen und hinterfragen, was den Arbeitskreis so lange gehindert habe, sich damit zu beschäftigen. Eine Frage sei für ihn zentral: "Was - und das ist die schwierigste Aufgabe - was wollen wir eigentlich nicht wissen von uns selber in dieser Geschichte. Und was nötigt uns dann dieses unbewusste Wissen und Nichtwissenwollen immer wieder zu verleugnen oder immer wieder nicht sehen zu wollen in unserer heutigen Arbeit."
Die NS-Ideologie und die angewandte Psychologie
Es sei eine traurige Wahrheit, so der Psychologe Gerhard Benetka von der Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität, dass der Nationalsozialismus eine Hochzeit der angewandten Psychologie gewesen sei. Dass diese Wahrheit niemanden in seinem Berufsstand beunruhige, das wiederum beunruhige ihn sehr.
Und so sieht auch der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash in der durch die Publikation von Eveline List aufgekommenen Diskussion um die Person des Igor Caruso eher den Auftrag sich mit der Rolle der Psychologie innerhalb der verbrecherischen Aktionen am Spiegelgrund auseinanderzusetzen, als vordergründig eine Personaldiskussion zu führen; wiewohl auch diese geführt werden müsse. Und in diesem Zusammenhang könnte auch die bisher nicht erfolgte Aufarbeitung der Gründungsgeschichte des Wiener Arbeitskreises für Tiefenpsychologie in Angriff genommen werden.
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 15. Mai 2008, 19:05 Uhr