Zwei Erzählungen von Bachmann-Preisträger Lutz Seiler
Turksib
Die Erzählung "Turksib" gibt dem schmalen Band den Titel. 22 Seiten, die das Buch leicht tragen würden, stark wie sie sind. Doch dem stellte der Verlag noch eine weitere Erzählung zur Seite: ein poetisches Traktat über das Schöne und dessen Widerhaken.
8. April 2017, 21:58
Überall stehen sie am Bahnsteig, wo immer der Zug hält, auch in Semey: Männer und Frauen, bepackt mit Fleisch und Brot, mit Nüssen und Rosinen, mit Souvenirs - alte Armeejacken, Sowjetsterne, Pelzmützen. Alles soll verscherbelt werden und in den Rucksäcken und Koffern der Touristen landen, die mit der Turksib durch Kasachstan reisen. Sogar alte Geigerzähler werden angeboten, hundert Rubel das Stück. Auch der Ich-Erzähler greift zu. Ein Erinnerungsstück, mehr nicht. Sorgen müsse man sich in der Gegend von Semey ohnehin nicht mehr machen, ist vor Ort zu hören, die Reiseführer geben grünes Licht: Das Land, früher Testgelände der russischen Atombehörde, sei längst nicht mehr radioaktiv verseucht, da könne man ganz ruhig sein. In diesem Sinn: gute Reise.
"Turksib" heißt jene Erzählung, die Lutz Seiler im vergangenen Jahr den Bachmannpreis eingebracht hat. Der Titel ist eine Referenz an die Turkestan-sibirische Eisenbahn, die sich von Nowosibirsk über Semey und Almaty südwärts zieht. Eine Strecke quer durch Wüsten, Steppen und unbewohnte Wälder – und eine Erzählung auf wenig ausgetretenen Wegen: mit einer suggestiven poetischen Sprache und einer Atmosphäre, die das Unheimliche und Unauslotbare evoziert, und dies zurückhaltend und voller Hintersinn.
Der Geigerzähler meldet sich
Eigentlich passiert nicht viel. Der Zug tuckert durch die nächtliche Landschaft, durch eine Gegend ohne Häuser und Menschen. Nicht viel zu sehen und hören, nur das Dröhnen der Geleise, das Poltern der Räder und das Ächzen der uralten Waggons. Und wenn man nun versuchen würde, den Geigerzähler in Gang zu setzen? Der Erzähler hat nicht wirklich damit gerechnet, dass das Ding noch funktionieren würde. Doch unversehens dringt ein Kratzen aus dem kleinen Gerät, später ein Knistern und Schleifen, verhalten, aber wahrnehmbar. Ein Wispern als Gegenstimme zum Fahrtlärm. Ein rotes Lämpchen blinkt auf.
Aber wie dies alles deuten? Der Erzähler rätselt. Immer wieder legt er sein Ohr an den Zähler, starrt aus dem Fenster des Zuges und landet im Dunkel. Und wenn es hier doch sehr viel mehr zu messen gäbe, als man offiziell zu Protokoll gibt? Wenn das Damals sich doch noch massiver in die Gegenwart schöbe als angenommen?
Aufgewachsen im Ostblock
Lutz Seiler weiß, wovon er spricht. Er ist im thüringischen Gera nahe Ronneburg aufgewachsen, wo die sowjetische Wismut nach 1949 das größte Uranvorkommen des Ostblocks erschlossen hatte. Die einstigen Schächte und Bohrtürme sind längst verschwunden. Blühende Landschaft statt strahlender Halden. Die Natur überwuchert die Geschichte, könnte man meinen. Wenn man sich da nur nicht täuscht.
Auch die Gegend von Semey, dem früheren Semipalatinsk, wo Seilers Erzählung spielt, trägt an der Vergangenheit. Dort, in der Ödnis der kasachischen Steppe, wurden zwischen 1949 und 1989 über 500 Atomsprengköpfe gezündet. Zu Testzwecken, wie es hieß, zuerst oberirdisch, dann in Stollen unter Tag. Das weite Gelände südlich von Semey ist inzwischen für jedermann zugänglich. Die Gräben und Tunnel sind längst zugeschüttet und verschlossen. Doch die Geigerzähler schlagen immer noch aus. Auch im Inneren der Waggons der "Turksib", wo sich der Erzähler durch die Gänge schiebt.
Eine merkwürdige Begegnung
"Korridor um Korridor", heißt es einmal, "Korridor um Korridor fügte sich zu einem provisorischen Schacht, der in die zähe, ältere Zeitform zu führen schien." Aus diesem Schacht, so scheint es, steigt dem Erzähler der Heizer des Zuges entgegen, ein massiger Mann in Uniform. Die beiden begrüßen einander: hie der Reisende aus Deutschland, dereinst Gefreiter einer längst untergegangenen Volksarmee, da der Heizer mit seinem ganzen Stolz: auf seiner Hände Arbeit, auf die Turksib, diesen Zug, der läuft und läuft, dem Lauf der Geschichte zum Trotz. Und auf jenes Lied, das zu seinem ganz persönlichen Trauer- und Klagegesang geworden ist. "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten", hört man ihn deklamieren, mit schwerem russischem Akzent. Heine, die Lorelei, in einem Zug in Kasachstan. Der Heizer kann nicht an sich halten, er umarmt den Deutschen, drückt ihn an sich, lässt ihn nicht mehr los. Als dann auch noch der Zug über ein defektes Gleisstück ruckt, wirft es die beiden zu Boden. Der Heizer begräbt den Erzähler unter sich. Nun schweigt auch der Geigerzähler.
"Turksib" ist die Geschichte einer merkwürdigen Begegnung, des Treffens zweier Menschen, die auf seltsame Weise miteinander verbunden sind. Heizer und Gefreiter. Beide kommen aus politischen Systemen, die längst geborsten sind, beide haben ein Sensorium dafür, dass vieles nicht so ist, wie es scheint. Lutz Seiler braucht keine äußeren Sensationen, um uns Leser stolpern zu lassen, um uns nachhaltig zu verunsichern und hineinzuziehen in einen Kosmos, der gleichzeitig fremd und vertraut ist. Plötzlich ist es wieder da, das Wissen um das Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein und immer auch einen Boden unterhalb des Bodens zu spüren.
Wohnen im "Riss"
"Gelobtes Land", so hatte Seiler seine Heimat Thüringen in einem seiner Gedichte genannt, ironisch natürlich. Er hat darin vorgeführt, wie es sich anfühlt, im "Riss zu wohnen", wie er schreibt: zwischen den Spalten und Schrunden in der Landschaft, zwischen den Stühlen, zwischen den Welten. Und um dieses Thema kreist auch diese Geschichte. Sie bleibt unprätentiös und verhalten, sie ist genau gebaut und präzise erzählt, fast schon wie ein Gedicht. Jedes Wort an seinem Platz.
Die Erzählung "Turksib" gibt dem schmalen Band den Titel. 22 Seiten, die das Buch leicht tragen würden, stark wie sie sind. Doch dem mochte der Verlag wohl nicht trauen und stellte der Titelerzählung noch eine weitere zur Seite: ein poetisches Traktat über das Schöne und dessen Widerhaken und über das, was man gemeinhin des Autors Stimme nennt. Ein feines poetologisches Bekenntnis, doch an dieser Stelle ziemlich fremd. "Turksib" könnte ganz für sich stehen. Lutz Seiler hat schon in Klagenfurt angekündigt, dass dieses Prosastück in einen Roman eingehen würde. Und das klingt nach einem ziemlich großen Versprechen.
Mehr zu Lutz Seiler in oesterreich.ORF.at
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 18. Mai 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Lutz Seiler, "Turksib", Zwei Erzählungen, Suhrkamp Verlag