Die revolutionäre Kraft der Alten
Gewonnene Jahre
Über unserer Gesellschaft schwebt das Damoklesschwert der umgedrehten Alterspyramide. Uwe-Karsten Heye, ein später Vater, kann der Entwicklung Positives abgewinnen. In seinem Buch widmet er sich den Chancen, die eine alternde Gesellschaft bietet.
8. April 2017, 21:58
Uwe-Karsten Heye beginnt mit einer Art Geständnis: Die Idee zu diesem Buch wäre ihm ohne Tom nicht gekommen. Und Tom begleitet auch durch das Buch. Tom ist, wie Heye es ausdrückt, ein spätes und unerwartetes Geschenk: der Sohn, der den 62-Jährigen noch einmal zum Vater gemacht hat. Ein Männerbuch also, denn Frauen werden sich im Allgemeinen mit einem derart späten Geschenk kaum beschäftigen müssen.
So macht Heye gleich zu Anfang die immer noch bestehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern klar, ohne sie aber zu thematisieren, obwohl er querbeet so ziemlich alles anspricht, was in der heutigen Gesellschaft unerledigt ist. Erst viel später erwähnt er im Buch, dass seine Frau mit ihren 40 Jahren wohl eine späte Mutter war. Späte Väter und späte Mütter trennen also 20 Lebensjahre. Kein kleiner Unterschied, wenn Heye am Ende des Buches seine Schlussfolgerungen aus dem so genannten demographischen Wandel zieht.
Begleitung von Einwandererfamilien
In Kapitel 1 schreibt Heye, als "Zukunftsmusik" an seinem 80. Geburtstag, einen ziemlich sentimentalen Brief an Tom, der nicht mit ihm feiern kann, weil er gerade in einem Internat lebt. Dieses Jahr im Internat ist aber Teil einer Utopie, die laut Heyes Wunschdenken 2019 schon Realität geworden ist - die jungen Leute begleiten gleichaltrige Heranwachsende aus Einwandererfamilien.
Hier und da höre ich von skeptischen Eltern, die sich beklagen, dass es Euch ein Jahr "kostet", wenn Ihr das Pflichtjahr "Gesellschaftliche Arbeit" ableistet. Wie kurzsichtig. Ich bin überzeugt, dass es kein Gesetz gibt, das ähnlich gewinnbringend für die Gesellschaft ist, wie diese Form der Zuwendung zu jungen Einwanderern. Es schafft doch ein gegenseitiges Kennenlernen, das kulturelle und gesellschaftliche Integration verbindet. Ich glaube, dass der Gewinn auch für Euch und für uns alle groß ist.
Dieser erste Blick in die Zukunft, dürfte wohl zu optimistisch gewesen sein, aber Heye hat sicher Recht, dass die Solidarität zwischen jungen Einheimischen und Zuwanderern gefördert werden sollte. Ob allerdings Gesetze der richtige Weg sind und ob Verpflichtung dazu führt, kann bezweifelt werden.
Schlüsselfaktor Bildung
Mit einem anderen - wenn auch nicht neuen - Ansatz hat Heye sicher auch Recht: Bildung ist der Schlüssel für eine positive Zukunft. Junge Leute, die die Schule ohne Abschluss verlassen oder eine vernachlässigte Ausbildung erhalten, sind leichte Beute für Rechtsextremismus auf der einen und Terrorismus auf anderen Seite. Auf diesem Gebiet ist Uwe-Karsten Heye Experte.
Heye, 1940 im Sudentenland geboren, aufgewachsen als Kind einer Flüchtlingsfamilie, konnte einschlägige Erfahrungen sammeln. Er war Pressereferent und Redenschreiber bei Willy Brandt. Später wirkte er als Diplomat und freier Autor bei diversen Medien. Heye ist Mitbegründer der "Aktion für ein weltoffenes Deutschland", die sich "Gesicht zeigen" nennt.
"Gesicht zeigen"
Die Aktion will Menschen ermutigen, gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus einzutreten. Dementsprechend ist auch dem Thema Selbsthass und Fremdenhass ein vergleichsweise umfangreiches Kapitel gewidmet. "Verblödungsmaschinen" hat er an anderer Stelle das Fernsehen genannt - umso lieber schult Heye Nachwuchsjournalisten, Neues berichtet er nicht.
Stellen sich Vorurteile und Angstgefühle ein, die uns in Form von wachsendem Misstrauen gegenüber Fremden in Umfragen wieder begegnen? Von einer Straßenschlacht nach einem Fußballspiel in Süditalien wird berichtet, sie habe auf die Reporter "wie eine nachgestellte Intifada" gewirkt. Gewalt in und vor den Stadien in Italien, in Leipzig oder Berlin - sie wirkt wie ein Echo aus den Unruhegebieten dieser Welt.
Nachhilfe in Zeitgeschichte
Vieles in dem Buch Heyes ist auf deutsche Verhältnisse abgestimmt, Rückblenden in die Geschichte erinnern an deutsche Ereignisse. Das ist an sich nicht negativ zu sehen, denn eine kleine Nachhilfe in der Zeitgeschichte unseres Nachbarlandes bringt allerhand Vergessenes oder hierzulande nicht Wahrgenommenes. Eher störend sind Heyes sentimentale Anwandlungen und die Art, wie er immer wieder kategorische Imperative zu formulieren versucht: wirkungsvollere Einwanderungspolitik, Reform des Bildungssystems, kinderfreundliche Gesellschaft, ein Ende der Agrarsubventionen, die die Chancen der Dritte-Welt-Länder ruinieren usw.
Klar, alles das wissen wir. Lösungen wären gefragt. Die beschreibt Heye allerdings kaum und das ist oft ärgerlich. Dazu kommt, dass die Ankündigung des Buches andere Erwartungen geweckt hat, die versprochene revolutionäre Kraft der alternden Gesellschaft kann sich nicht in der Produktion kleiner Toms manifestieren.
Auch Arbeitswelt neu gestalten
Einige gute Ideen machen auch noch keine Revolution. Eine der Ideen: Bei schwindenden Geburtenzahlen könnten die jungen, leistungsfähigen Alten, abgesichert durch ihre Rente als eine Art Grundeinkommen, Aufgaben in Kindergärten mit der leider üblichen schlechten Bezahlung oder etwa als eine Art Schulpaten übernehmen, die Ergänzungsunterricht für lernschwache Schüler bieten. Nicht nur das Bildungssystem, sondern auch die Arbeitswelt müsste neu gestaltet werden.
Natürlich kommt Uwe–Karsten Heye am Schluss noch einmal auf den Brief an Tom vom Anfangskapitel zurück. Tom hat als 20-Jähriger das Buch seines Vaters gelesen und findet, es sei eine interessante Geschichtsstunde, aber alle seine Forderungen seien längst kalter Kaffee: die freie Wahl des Rentenalters realisiert, die Hauptschule zugunsten einer Einheitsschule abgeschafft. Dann hätte die alternde Gesellschaft jene revolutionäre Kraft entwickelt, auf die er setzt, freut sich Heye. Noch hat er wenig Grund zur Freude, aber vielleicht sollte man die Kraft der Wiederholung der ewiggleichen Forderungen nicht unterschätzen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Uwe-Karsten Heye, "Gewonnene Jahre oder die revolutionäre Kraft der alternden Gesellschaft", Blessing Verlag
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Blessing Verlag - Gewonnene Jahre