Texte von Michel Deguy
Gegebend
Gut drei Dutzend Bücher - Gedichte und Essays - hat der 1930 in Paris geborene französische Lyriker und Schriftsteller Michel Deguy seit 1959 veröffentlicht. Leopold Federmair hat mit "Gegebend" nunmehr eine erste Auswahl auf Deutsch vorgelegt.
8. April 2017, 21:58
Als Gedichte wird man diese Texte nicht einfach bezeichnen könne, geht doch auch Michel Deguy von der Überzeugung der - mittlerweile an die hundert Jahre alten - Moderne aus, dass Gattungsunterschiede zwischen Prosa und Gedicht kaum mehr existieren. Wer wüsste noch, wo surrealistisch oder dadaistische Prosa aufhört und Lyrik beginnt, oder um eine zeitlich näheres Beispiel zu geben: Was schreibt Fridericke Mayröcker, wenn sie Prosa dichtet?
Erschaffung eines eigenen Kosmos'
Der 160-Seiten-Band hebt fast konventionell an.
Der Dichter im Profil
Der Dichter mit dem Winkelmaß von Körper Schatten auf den Schwellen
Der Dichter Gulliver der einen Winterbrombeerstrauch mit Hopkins' Nadel nachzeichnet
In der die Satz-Form sprengende Eloge kommt dem Leser sogleich alle Vertrautheit an Weltbezug und Alltagssprache abhanden. Deguy geht es - un-metaphorisch gesprochen - um die Erschaffung eines eigenen, neuen Kosmos', um eine poetische Kosmologie - wer diesen Raum betritt, dem ist die Rückkehr in den Alltag verwehrt. Das gilt auch für den Dichter selbst, der das Element wechselt und abtaucht:
"Stell dir vor, ein Fisch sucht nach einem Fisch im Meeresdunkel" heißt es da über seine eigene Arbeit anhand von Paradoxen, Anspielungen, und Vergleichen, alles zum sprechen zu bringen. "Die Fabeln sprechen Tieren gleich." Die demiurgische, weltschöpferische Tätigkeit mag dabei von durchaus Vertrautem, etwa einer Landschaft, ausgehen.
Der Weinberg kehrt unterm Grün zurück, das Blau gewinnt den Himmel wieder, die Sonne erlischt in der Erde, das Rot wird höher noch und verleibt sich die Felder von Crau ein. Die Farben befreien sich von den Dingen und finden ihr Reich dicht und frei vor den Dingen wieder, ähnlichem dem Lehm, der Adam vorherging.
Anleihen aus allem Möglichen
Deguy geht es wohlgemerkt nicht um Symbolismus, vielmehr entstehen mittels surrealer Bilder, Anleihen aus allem Möglichen, vor allem antiker Mythologie, von Fremdwörtern, Theoriepartikeln hermetischer Text-Körper, deren seitenlanger Zyklen-Charakter manchmal von romantischen Zeilen unterbrochen werden: Der Leser befindet sich dann gleichsam in vertrautem Gelände.
Diese Dame und ihr schönes Fenster
Ein asymmetrischer Engel mit Windrohrflügeln
sagt Gegrüßt seist du.
Mitunter wird man dabei aber auch gehörig in die Irre geführt.
Die Liebe ist stärker als der Tod sagtet Ihr
Aber das Leben ist stärker als die Liebe und
Die Gleichgültigkeit ist stärker als das Leben.
Kaum hat man sich im Mittelteil des Gedichts auf die sarkastische Beschreibung der Wandlungen einer Liebe im Lauf eines langen Ehelebens eingestellt - "Und Duschbad monatlich im Lethe-Fluß / Lackierter Trauer" - da bewegt sich der Text in eine ganz andere Richtung.
Und ein stummer Greis in uns seit langem
Überlebt schmerzlos am Massengrab der Kinder.
Erst anhand der Unterschrift "Warschau" im nächsten Text-Teil glaubt man wieder zu wissen, worum es da geht: Massenmord.
Die Welt in Gedankenprosa
Deguy entfaltet in seinen lyrischen Gebilden Überlegungen zu Politik und Zeitgeschichte, er setzt sich mit Dichtung und Dichtern aller Generationen auseinander, gesteht humorvoll "weise" Versäumnisse ein: Was er nicht gelesen hat, was er nicht gesehen hat, was er nicht gesagt hat; vor allem denkt er aber dichtend.
Zugänglicher wird diese Welt in der sogenannten Gedankenprosa, meist halbseitigen Miniaturen. "Ende eines Nachmittags bei Annapolis" beginnt vordergründig als kluge, ein wenig poetisch verbrämte Betrachtung zum Reisen:
Reise ist Erinnerung, aber woran, an das Sanfte der Sackgasse oder noch vieldeutiger an die wechselseitige Hingabe von Sanftmut und Sackgasse, von Rand und Umkehr.
In zügigen Schritten wird aus der Reiseerfahrung eine ekstatische Beschreibung absoluter dichterischer Gegenwärtigkeit - mehr noch, das Ganze wendet sich ins Theologisch-Religiöse.
Eine lichte Wolke überschattet sie. Rabbi, hier ist für uns gut sein. Sollen wir drei Hütten bauen? (...) Steht auf und fürchtet euch nicht.
Treffende Metaphorik
Michel Deguy, der sich ausführlich (auch übersetzend) mit Paul Celan und Martin Heidegger, einer Dichtung, die als ihr Programm das "Sich-aussetzen" definiert hat, und einem Denken, das das "Wohnen des Menschen" als "dichterisch" verstanden wissen wollte, Deguy findet für jedes seiner Stücke an Denk-Prosa eine andere und neue stilistische Lösung.
Da geht es - sozusagen thematisch - um eine von Technik beherrschte Welt, um weltumspannende Verhältnisse, um "Evolution", um "Devisen" oder um Flugzeuge. Allerdings kommt man dabei ins Staunen, mit welch konventioneller, geradezu altertümlicher, deshalb aber um nichts weniger treffender Metaphorik das ästhetisch vermutlich wichtigste Objekt des 20. Jahrhunderts in seiner Flugbahn beschrieben wird.
Die Flugzeuge kreuzen sich wie kriegerische Säbel. (...) Toast auf Kassiope selbst und Deneb, zu Ehren unsere letzten Feuer! Ins Spitzentuch aus Telstar-Satelliten gehüllt so spielt die Erde russisches Roulette, eine Callgirl-Cassandra in Concorida Richtung Caracas oder Qatar.
Den mittlerweile - leichtfertig - vergessenen Kalten Krieg verkettet er zu einem "Judaskuss den Friedenskuss den Kuss" oder er wagt sich an eine - wie es neudeutsch so schön heißt - "geopolitische" Fragestellung.
Wird Amerika die Erde in seinen Traum ziehen, in seine Besatzungsschutz?
Beschwörung des Dichtens selbst
Natürlich fehlt in diesen Texten auch nicht die von allen Modernen ausführlich betriebene Beschwörung des Dichtens und des Gedichtes selbst. "Der Wunsch des Gedichts ist die Architektur", heißt es einmal traditionalistisch, seine - des Gedichtes - aktuelle "Wahrheit" wird anhand des Vergleichs mit dem Verfassen eines Briefes erklärt.
Wir nehmen von ihm (Anm.: dem Gedicht) eine wenig sichere Wahrheit an, die wir interpretieren müssen, während es die Wahrheit schont.
Wenn - dieser Maxime entsprechend - auch verborgen bleibt, worauf der Dichter hier wartet, das Geheimnis ist raumfüllend und die Gegenstände sind durchdringend erfasst.
Dieses Zimmer gleicht einem 100-Meter-Lauf vor dem Start; die ganze Luft ist angespannt; die Sehnen der Stühle, die Unterarme der Sessel, die Tischfersen, die Luftvorhänge, alles ist gespannt, alles ist gespannt in der Erwartung, dass die Klingel ertönt, deine Schwingung, ich spränge auf, wenn ich dich hörte; ich erwarte dich.
Liebe und Tod
Michel Deguys Texte verlangen ziemlich viel Aufmerksamkeit, ihre klare Dunkelheit gerät dennoch nie zu manierierter Überspanntheit oder Verschmocktheit, auch wenn sie sich allen pseudokritischen ästhetischen Klugredner, die das Lustvolle und Lustige sprachexperimenteller Texte so sehr hervorheben, radikal entgegensetzt. Man mag dieses Buch irritiert zur Seite legen, sogleich bemerkt man aber, dass man längst in seinen Bann geraten ist.
Allein wegen der 28 Seiten des "An das nicht Endende" überschriebe Kapitels lohnt sich die Lektüre von Gegebend". Der Text über den Tod seiner Frau, wurde, weil dem Autor zu privat und zu intim, nicht in die dreibändige französischen Werkausgabe seiner Dichtungen aufgenommen. Es ist eine düstere, schrittweise immer klarer werdende Abrechnung eines alten Mannes, die anders als der bekannte Todes-Gegner Elias Canetti zu einer klassischen Position gelangt: Die Liebe ist stärker als der Tod.
Verlust und Trauer
Auf einen philosophierenden Auftakt - "Was einen Seinsgrund hat / Muss man erst begründen / Wovon man nicht sprechen kann / Darüber muss man schreiben" - folgt die Apologie in Sachen dichtendem Weltverständnis.
Dichtung beraubt sich um zu sein
Wie ein Liebender verschlingt ohne zu verschlingen
Um den Buchstaben der Liebe zu bezeichnen. (...)
Es gibt also zwei Arten von Liebeskummer. Der zweite ist der der unwiderruflichen Trennung, nach dem Leben.
Was Michel Deguy hier über Verlust, Trauer, Ehe, Zeit, Erinnerung, Trost und Verzweiflung schreibt, ersetzt nicht nur Bibliotheken an pseudoreligiöser Sinn- und Erbauungsliteratur, es ist auch eine schonungslose Abrechnung mit sich selbst, in der alle Illusionen des Überlebenden - auch jene, Sterben und Tod zu beschreiben oder dichtend zu "bewältigen" - beseitigt werden.
Es gibt keine Pornographie des Todeskampfes. Das Grauen ist auch nicht erhaben, denn das Erhaben bleibt an das Schöne gebunden. (...) Was hab ich Lieberes in mir als den Tod M.s im Herzen - Quelle?
Ich beuge mich darüber, Narziss; die riesige Träne gibt mir mein Spiegelbild nicht zurück.
In jedem Gedicht ein Gebet
Eines der neueren Gedichte beginnt schließlich so:
Aus dem Petersdom zu Rom kommend schreibe ich:
In einer Pieta steckt auch eine Lumpensammlerin
Des Morgengrauens die anderen den Schatz ihren Abschaum reicht.
Da bekanntlich in jedem Bettler jederzeit auch ein Gott stecken kann, warum nicht in jedem Gedicht auch ein Gebet? Dafür ist Michel Deguy gewiss ein zu "säkularer" Dichter; trotzdem verwundert es nicht, dass er in einem seiner jüngsten, den Band beschließenden balladenartigen Text folgende altbekannte Maxime nachdichtet: "Du sollst nicht töten". Solche "Gedankenlyrik" ist in der zeitgenössischen Dichtung, die meist "formale" Gründe dafür angibt, warum "etwas nicht mehr geht", kaum anzutreffen. Michel Deguy beweist kurz gesagt, dass das Gegenteil wahr ist.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Michel Deguy, "Gegebend", Gedichte, aus dem Französischen übersetzt von Leopold Federmair, FolioVerlag
Link
Folio Verlag - Gegebend