Avantgarde-Literatur nach 1945

SchattenSchriften

Andreas Puff-Trojans Studie "SchattenSchriften" liefert erstmals eine umfassende Dokumentation deutschsprachiger und französischer Nachkriegsavantgarde und macht auf deren Bedeutung für das heutige Kunstverständnis aufmerksam.

Peter Zimmermann spricht mit Andreas Puff-Trojan

Man sagt "Avantgarde" wenn man künstlerische Hervorbringungen meint, die sich einem weiteren Verständnis verschließen. Man übersieht dabei leicht, dass die Begriffe "Moderne" und "Avantgarde" keine Gattungs- oder Epochenbezeichnungen sind, sondern aus theoretischen Diskursen über gesellschaftliche und politische Zusammenhänge der Kunstproduktion hervorgegangen sind.

Dazu gibt es verschiedene Denkansätze. Einer der bekanntesten ist jener von Peter Bürger, dessen "Theorie der Avantgarde" auf der kritischen Theorie Theodor W. Adornos aufbaut. Demnach gibt es in der Avantgarde keinen Stil, sondern nur die Reflexion über die Kunstmittel, über Form und Material. Das führt zu einer Kritik nicht der künstlerischen Tradition, sondern der Institution in der unmittelbaren Gegenwart. Die Avantgarde bricht nach dieser Ansicht nicht mit historischen Entwicklungslinien, wie das oft unterstellt wird, sie stellt bloß den Auftrag der Kunst infrage und damit die Kunstproduktion. Der Avantgardekünstler ist demnach kein Bewohner des Elfenbeinturms, sondern jemand, der versucht, sein Tun, sein Material, seine Arbeitsbedingungen vor dem Betrachter oder Leser auszubreiten.

"Eine Art prophetischer Abenteurer"

Wenn in den letzten Jahren Schriftsteller immer wieder die Rückkehr zum Erzählen und die Abkehr von einer angeblich überbewerteten Avantgarde eingefordert haben, dann hatte das mit dem Fetisch zu tun, den der amerikanische Kunmsthistoriker Donald Kuspit so beschreibt:

Der Avantgardekünstler gilt als eine Art prophetischer Abenteurer, als Individualist, der inmitten einer folgsamen Gesellschaft Risiken auf sich nimmt, als Übermensch, der der Welt des ängstlichen Herdenmenschen eine neue Art Feuer bringt, das die totale Finsternis vertreibt und neue Sicht wie auch Einsicht ermöglicht. Eine neue Vision von Kunst und Leben, eine allumfassende neue Erleuchtung.

Diese Definition ist gegenwärtig allerdings nicht mehr haltbar, denn in einem pluralistischen Kulturbetrieb steht alles neben allem und es ist gar nicht mehr auszumachen, wer der Individualist ist und wer der Herdenmensch. Das war unmittelbar nach 1945 noch anders.

"Entartete Kunst" unter den Nationalsozialisten

Der Zweite Weltkrieg führte zu einer Zäsur. Unter den Nationalsozialisten galt Dadaismus und Expressionismus als "entartete Kunst", sowohl im bildenden Kunstbereich als auch in der Literatur, sodass ein anknüpfen an Traditionen nach 1945 zwar schwierig, aber nicht unmöglich war.

Die Bücher waren zwar aus den Bibliotheken verschwunden, es gab aber auch Bibliothekare und Buchhändler, die die Bücher der Dadaisten und Expressionisten versteckt hatten, erzählt Andreas Puff-Trojan im Gespräch mit Peter Zimmermann. An diesen Büchern konnten sich Autoren wie die Wiener Gruppe zum Beispiel orientieren.

Surrealisten als "Vaterlandsverräter"

In Frankreich war das Problem ein anderes. Die Surrealisten, an die man anknüpfen hätte können - zum Beispiel André Breton, der in die USA emigriert war -, galten als Vaterlandsverräter, so Puff-Trojan. Jean Paul Sartre fragte ganz offen, was solle man mit einem Surrealismus anfangen, der nicht im Widerstand war? Und Louis Aragon, einer der wichtigsten Vertreter des Surrealismus, der in Frankreich geblieben war, habe zuletzt "richtige Vaterlandsdichtung" betrieben.

Für die verschollenen Expressionisten und Dadaisten im österreichischen und deutschen Raum war es kurioserweise leichter, auf junge Menschen zu treffen, die weitermachen wollten, als in Frankreich, wo eben diese surrealistische Dichtung einfach einen schlechten Ruf hatte. Mehr dazu oben im Audio.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Andreas Puff-Trojan, "SchattenSchriften. Deutschsprachige und französische Avantgarde-Literatur nach 1945", Sonderzahl Verlag

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Sonderzahl Verlag - SchattenSchriften