Die Auswirkungen der Vergangenheit

Das sag ich dir

"Das sag ich dir" ist ein Roman, in dem es um sehr vieles geht: unter anderem um die Haltlosigkeit der Sprache und um den Kampf der Kinder, selbstständig zu werden. Es ist ein Buch über die Bürde der Vergangenheit wie über den Schmerz, sie zu verlieren.

Jamal Khan ist Psychoanalytiker in London. Ein Beruf wie eine Rettung. Nach desolater Kindheit mit einem väterlichen Zaungast, einer depressiven Mutter und einer streitsüchtigen Schwester, geriet Jamal als junger Mann in eine schwere Krise. Paranoide Schübe, Lähmungen, Halluzinationen - das ganze Programm. Damals rettete ihn der muslimische Analytiker Tahir Hussein, ein begeisterter Freudianer mit noch größerem Enthusiasmus für die Literatur.

Ich ging an drei Morgen pro Woche hin. Es war das erste Mal, dass ich mich selbst für voll nahm. Tahir hatte etwas von einem Selbstdarsteller, der sich in die Ethnogewänder der Nachkriegszeit hüllte. Manchmal kam er mir nicht vor wie ein Arzt, sondern wie ein vorn auf einem Pier stehender Magier.

Üppiges Sexleben

Jamals bester Freund Henry ist ein angesehener Theaterregisseur, ein Berserker, Mann des starken Wortes, der glaubt, der Mensch sei ein Klumpen Lust. Entsprechend ausschweifend ist sein Sexualleben, das er meist mit Jamals Schwester, einer körperlich und seelisch entgleisten Fünfzigerin teilt. Sie sind Stammgäste in einem Swinger-Club und Henry überredet seinen Freund Jamal, auch mal bei einer Orgie dabei zu sein. Jamal beobachtet dort seine Ex-Gattin, die Mutter seines Sohnes, in der Rolle der Sexsklavin. Als Ehefrau war sie unnahbar und stand stets unter Beruhigungsmitteln. Jetzt gefällt sie ihm besser. Jamal selbst geht lieber ins Bordell.

Ist dieser Haupthandlungsstrang zwar wild und bunt, wie man es von vielen der Romane und Drehbücher Hanif Kureishis kennt, so ist ihm gleichzeitig auch etwas erschreckend Stückwerkartiges zu eigen. Die jugendlichen Figuren aus "Mein wunderbarer Waschsalon" hatten noch den Elan, alle möglichen Grenzen überschritten - die der Rasse, der Klasse sowie sexuelle; Kureishis Helden aus "Das sag ich dir" scheinen hingegen von ihrer Vergangenheit und der Unmöglichkeit, ihr zu entkommen, derart niedergedrückt, dass sie sich - nun Ende 50 - kaum noch bewegen können.

Leere und Blindheit

Hanif Kureishi selbst meint zu seinem Roman: "'Das sag ich dir' ist ein Roman über die Vergangenheit. Und die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart - wie wir in der Vergangenheit leben, wie die Vergangenheit uns prägt und wie wir die Vergangenheit suchen."

Vielleicht um ihre Vergangenheit abzuschütteln: Kureishis Figuren agieren zwar heftig, aber so wie der Käfig-Hamster in seinem Rad. Sie haben alles: Drogen, Frauen, Geld und Kommentarspalten im Guardian, machen auch heftig von all ihren Möglichkeiten Gebrauch. Aber nichts hilft. Der ganze Luxus verwandelt sich in ein Sedativum. Es bleibt: Leere, gepaart mit einer Blindheit dafür. Also wird weiter agiert und nicht gehandelt. Die Frage nach Ziel, Sinn und Entwicklung nur noch rituell gestellt.

Zum Beispiel wenn Henry den Swinger Club beschreibt, als sei es die letzte klassenlose Nische der kapitalistischen Gesellschaft. Vielleicht, denkt sich die ratlose Leserin, ist dies ja ein gewitzter Schachzug des Autors und sein neuer Roman "Das sag ich dir" ein furioses Werk über die Orientierungslosigkeit. Das Romanmotto, eine Liedzeile des Blues-Komponisten Robert Johnson, "I went down the crossroads / Fell down on my knees", könnte immerhin ein Indiz dafür sein.

Die Einsamkeit kurieren

Hanif Kureishi ist entsetzt über diese Lesart. Klein, blass, schmal hängt er in dem Sessel eines Hamburger Hotels. Eine Kellnerin bringt die bestellten Käsebrote; er betrachtet sie, als seien sie eine Zumutung. Und bevor er antwortet, rückt er dem ersten mit seltsam zierlichen Bissen zuleibe.

"Offenbar hatten wir ja mal eine sexuelle Revolution, die in den 60ern stattfand. Das heißt, wir wurden von einer unterdrückten Gesellschaft zu einer freien", so Kureishi. "Das Buch handelt deshalb auch von sexuellem Extremismus. Und davon, wofür wir andere Leute benutzen. Kann sein, wir sind depressiv und wir benutzen andere, um uns hoch zubringen, um unsere Einsamkeit zu kurieren. Oder wir versuchen wirklich, andere Leute zu erreichen. Das ist eine der Fragen, die dieses Buch stellt: Was heißt es wirklich, andere Leute zu erreichen. Ist es überhaupt möglich, andere Menschen zu erreichen? Ist Sexualität ein Weg, zum Ziel zu kommen, oder ein Weg, sich zu verstecken?"

Eine Welt der Traurigkeit

Weitere Nachfragen ergeben: "Das sag ich dir" ist ein Roman, in dem es um sehr vieles geht: um die Haltlosigkeit der Sprache, um den Kampf der Kinder, selbstständig zu werden, sowie um den Kampf aller Lebenden, die Toten wirklich zum Schweigen zu bringen. Es ist ein Buch über die Bürde der Vergangenheit wie über den Schmerz, sie zu verlieren.

Hanif Kureishi: "Als menschliche Wesen leben wir in einer Welt der Traurigkeit und des Verlusts. Wir müssen andauernd etwas oder jemanden aufgeben. Davon sind wir niemals in unserem ganzen Leben frei. Wir müssen unsere Kindheit aufgeben, unsere Eltern, unser Zuhause. Es ist ein ständiger Verlust. Und es ist deshalb sehr schwierig, Unglück von der Erfahrung des Verlusts getrennt zu sehen. Deshalb ist es so schwer, ein Mensch zu sein. Und deshalb beneiden wir Tiere, von denen wir annehmen, dass sie keine solchen Erfahrungen machen müssen. Wenn man älter wird, lässt der Enthusiasmus fürs Leben und die Welt einfach nach. Die Energie, die Lust wird immer weniger. Aber trotzdem, es gibt immer noch Dinge, die liebenswert sind. Man muss danach suchen und sie sind schwerer zu finden, aber es gibt sie noch."

Alles Grelle erzählen

Neben dem Hauptstrang der Handlung, der den Protagonisten Jamal und Henry gewidmet ist, umfasst Kureishis Roman noch eine Menge Nebenhandlungen: unter anderem eine Reise nach Pakistan, Exkurse zu magersüchtigen und missbrauchten Töchtern, in pakistanische Homocliquen. Szenen gehen auch an frigide Fernsehproduzentinnen, hohle Upperclass-Ladys und Bushy, das tragische Gitarrengenie.

"Something to tell you" heißt der Roman im englischen Original. Und es scheint wirklich so, als wolle Hanif Kureishi uns alles erzählen, was er irgendwie für grell genug hält, um es in einen Roman zu packen. Nur, die Teile scheinen sich zu weigern, ein Ganzes zu bilden. Es ist ein fluffiges Konstrukt geworden, mehr Schaum als Geschichte. Ein Roman, in dem es um alles geht und am Ende um nichts.

Das muss auch Kureishis Londoner Verleger empfunden haben, als er den Autor bat, wenigstens einige der zahlreichen Nebenfiguren aus dem Roman zu streichen. Aber, so verriet Kureishi der Tageszeitung "The Guardian": "Ich verstand, was er meinte, aber es kümmerte mich nicht. Dieses Mal wollte ich so richtig verrückt und exzentrisch sein."

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 1. Juni 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Hanif Kureishi, "Das sag ich dir", aus dm Englischen übersetzt von Henning Ahrens, S. Fischer Verlag