Gefesselte Phantasie
Fanny Hensel
Fanny Hensel war Felix Mendelssohn-Bartholdys ältere Schwester. Ihre pianistischen und kompositorischen Fähigkeiten waren außergewöhnlich; ihre Bildung war von seltener Weite. Wie ist ihr kurzes Leben verlaufen, was waren entscheidende Wegweiser?
8. April 2017, 21:58
Fanny Hensel, Saltarello Romano
Schade, dass schon Vorwort und Einleitung voller Polemik sind. Und auch wieder nicht, denn der Leser kann sich so rechtzeitig darauf einstellen, dass Fanny Hensel als gefesselte Phantasie präsentiert wird. Das offensichtliche Ziel des Autors ist, nachzuweisen, warum sie nicht das geworden ist, was er als ihre eigentliche Bestimmung sieht: nämlich eine freischaffende, international anerkannte und umworbene Komponistin und Dirigentin.
Als diesbezügliche Bleigewichte müssen im Wesentlichen ihr Vater Abraham Mendelssohn und ihr vier Jahre jüngerer Bruder Felix herhalten.
Kein Geigenunterricht
Eines von vielen Beispielen, die musikalische Erziehung von Fanny und Felix Mendelssohn betreffend:
Am Geigenunterricht (...) nahm die Schwester wohl nicht teil, entweder um jetzt schon allzu hochfliegenden Zukunftsplänen vorzubauen, die sich etwa auf die Komposition mit Streicherbesetzungen hätten richten können, oder aber weil das Spiel von Streichinstrumenten (...) wegen des freien Blickes auf den Körper als unschicklich für Frauen galt.
Wird wohl der zweite Grund gewesen sein - anders wäre die Tatsache nicht sinnvoll erklärbar, dass Fanny zur gleichen Zeit Kompositionsunterricht der ersten Berliner Kapazität, Carl Friedrich Zelter, erhielt.
Großes Detailwissen
Der Autor Peter Schleuning verfügt über großes Detailwissen zur Zeit und Gesellschaftsstruktur des frühen 19. Jahrhunderts, das auch auf einer Reihe früherer Publikationen aufbaut. Fast akribisch genau schildert er die Familienstruktur der Mendelssohns, die politischen und sozialen Umstände, die Probleme der jüdischen Bevölkerung und der Konvertiten in Deutschland, die Traditionen und Denkmuster, die auf die junge Fanny einwirkten. Ihre Familie repräsentierte wie kaum eine andere die bürgerlich-intellektuellen und künstlerischen Anschauungen der gehobenen Gesellschaft im beginnenden 19. Jahrhunderts.
Einerseits war in jüdischen Familien Leben und Denken der älteren Generation (namentlich des Vaters) bestimmend, wenn nicht gar verpflichtend für die nachfolgenden Generationen. Aus diesem Schatten des Vaters, der später vom Schatten ihres Bruders Felix abgelöst wurde, herauszutreten, war also keine leichte Aufgabe für Fanny Hensel. Andererseits ermöglichte ihr das Eingebundensein in diese einflussreiche und kulturell hochstehende Familie überhaupt erst, die Grundlagen für ihre musikalische Laufbahn zu schaffen. Dass sie es dabei ungleich schwerer hatte als beispielsweise ihr Bruder Felix, liegt auf der Hand.
Komplizierte Satzkonstruktionen
Schade noch ein Zweites an diesem umfangreichen Buch: Es liest sich schwer. Schleunings Satzkonstruktionen sind kompliziert und mitunter hart an der Grenze des syntaktisch Stabilen. Auch dafür eine recht willkürlich gewähltes Beispiel: Achtung, Konzentration!
Gerade im Jahre 1816 ergab sich in Berlin ein in dieser Hinsicht bedeutsames Zusammentreffen, welches auch dadurch wichtig sein kann, dass Mendelssohns Hauswirt, Pfarrer Stägemann, der die Kinder vier Jahre zuvor getauft hatte, ein Verwandter gewesen sein könnte jenes Staatsrates von Stägemann, in dessen Haus schon seit einigen Jahren eine Art literarisch-musikalischer Salon stattfand mit der Spezialität von Liederspielen.
Vermutungen und Spekulationen
Dort, wo der Autor sein Quellenstudium präsentiert, ist das Buch überaus detailreich und wertvoll. Auf die persönlichen Vermutungen und Spekulationen, die sich häufig anschließen, ließe sich hingegen verzichten, namentlich wenn es ins Tiefenpsychologische geht. Oder um die Frage, ob die Hamburger Erstaufführung der "Eroica" - deren Komponist nicht genannt wird - zu Fannys prägenden musikalischen Eindrücken zählt. Denn Fanny war damals genau zwei Jahre und 28 Tage alt.
Den verdienstvollen und genauen Werkbesprechungen, die das Buch abschließen, fehlt ein Verzeichnis käuflich erhältlicher Noten und CDs der Kompositionen von Fanny Hensel.
Erschienen ist das Buch des an der Oldenburger Universität Musik lehrenden Peter Schleuning als Band 6 einer Publikationsreihe zum Thema "Europäische Komponistinnen". Böhlau Verlag 2007.
Hör-Tipp
Apropos Musik, jeden ersten Sonntag im Monat, 15:06 Uhr
Buch-Tipp
Peter Schleuning, "Fanny Hensel geb. Mendelssohn: Musikerin der Romantik", Böhlau