Kann Musik stinken?
Theaterskandale und Kritikerirrtümer
Ob Strawinskys "Le sacre du printemps" oder Rossinis "Barbiere di Siviglia": Oft mussten die ersten Reaktionen von Publikum und Kritik von der Nachwelt korrigiert werden. Häufig formierten sich ganze Parteien für oder gegen einen Komponisten.
8. April 2017, 21:58
Der größte Theaterskandal des 20. Jahrhunderts war wohl die Ballettpremiere von Strawinskys "Le sacre du printemps" in der Choreographie von Nijinsky, aber auch so gegensätzliche Werke wie Gottfried von Einems "Jesu Hochzeit" und Richard Wagners Pariser Fassung des "Tannhäuser" haben Skandale ausgelöst.
Nicht einmal klassische Publikumsrenner wie Bizets "Carmen", Rossinis "Barbiere" Offenbachs "Les Contes d’Hoffmann" oder sogar die Operette der Operetten, die "Fledermaus" hatten bei der Uraufführung Erfolg.
Was falsch lief
Die Gründe waren höchst unterschiedlich: Bei "Sacre" wurde die Schuld der Choreographie zugeschoben, Rossini hat man übel genommen, dass er das Sujet einer allseits beliebten Oper von Paisiello erneut vertont hat, Wagner hatte für Paris zwar ein Bacchanal hinzukomponiert, aber nicht das für den einflussreichen Jockey Club unabdingbare Balltet im zweiten Akt, und Offenbach war zu früh gestorben, um seinen "Hoffmann" noch bühnentauglich zu hinterlassen, das haben erst Bearbeiter vieler Generationen versucht und noch immer nicht die über jeden Zweifel erhabene Fassung gefunden.
Geschmacksvorgaben der Kritiker
Manchmal haben auch Kritiker ihren Einfluss geltend gemacht. Oft wurden die ersten Reaktionen von Publikum und Kritik von der Nachwelt korrigiert: "Die Kritiker mit ihrem Geschwätz werden nie jemanden unsterblich machen", sagte Beethoven, "so wie sie auch keinem von denen Unsterblichkeit wegnehmen, denen Gott sie bestimmt hat. Mückenstiche sind das."
Aber einige dieser "Mückenstiche" den Werken der "Gestochenen" gegenüberzustellen kann ganz amüsant sein.
Kulturkampf der Opernfans
Häufig formierten sich ganze Parteien für oder gegen einen Komponisten, die ihre Lieblinge verteidigten und die Konkurrenten auspfiffen. Denken wir etwa an die Gluckisten und die Piccinisten in der Zeit von Glucks Opernreform in Paris, oder an den Wagnerianer Hugo Wolf, der beleidigend ausfällige Kritiken im Wiener "Salonblatt" schrieb und darin besonders gerne Brahms und seinen Kreis angriff, hinter denen wieder der Kritikerpapst Eduard Hanslick stand, der in seinen souverän und - im Gegensatz zu Wolf - stilistisch subtil formulierten Kritiken in der "Neuen Freien Presse" besonders nachdrücklich gegen Verdi, aber auch gegen Wagner und sogar Tschaikowsky zu Felde zog.
Beckmessers Fehlurteil
Paradebeispiel ist seine Theorie von der Geruchsbelästigung durch Musik, die er an Hand von Tschaikowskys Violinkonzert entwickelt: "Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen, weiß ich nicht. Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht Musikstücke geben könne, die man stinken hört."
Musikkritiker im Nachteil?
Tatsache ist, dass sich Musikkritiker gegen über den Kollegen, die das Sprechtheater zu beurteilen haben, im Nachteil sehen. So meint etwa Hans Heinz Stuckenschmidt über "Kritik in unserer Zeit", dass sich "die Musikkritik mit der Beschreibung einer Materie befasst, die eigentlich gar nicht beschrieben werden kann. Der Theaterkritiker hat mit einer realen Handlung, einem Kausal geordneten Text, Dingen der täglichen Erfahrungswelt zu tun. Aber Musik? Sie ist ja die Form selbst, alles Formale, alles Strukturelle fällt bei ihr mit dem sogenannten Inhalt zusammen, sie bildet die wunderlichste Ehe von Rationalem und Gefühligem."
Und so bewundert er demonstrativ den Musikkritiker Georg Bernard Shaw, weil dieser stolz darauf gewesen ist, die Musikkritik zu "vulgarisieren" und meinte, dass der beste Mann im Zirkus stets der Clown sei. "Shaw hat", so Stuckenschmidt, "bewiesen, dass man das Metier des Musikkritikers ausüben kann, ohne sich fortwährend mit hochtrabenden, für den Normalleser unverständlichen Vokabeln zu schmücken."
Kulturgeschwätz über Virtuosengeklimper?
Und Musikkritik kann nicht nur dem Werk an sich gelten, sondern auch dessen Interpretation, wobei deren Vergänglichkeit Fehlurteile nicht mehr überprüfbar macht, es sei denn, es handelt sich um Schallplattenkritiken, die Adorno im Gegensatz zu Joachim Kaiser für nichts als "Kulturgeschwätz" hält: "Musikkritik soll mehr sein als feuilletonistischer oder orientierender Betrieb, sie muss in gewissem Sinn von der Musik gefordert sein, nicht bloß von den Rezipierenden", sagte Adorno bei einem Symposion, und weiter: "Es ist die Gefahr von Kritik, dass sie selber zum allgemeinen Kulturgeschwätz noch ihr Scherflein beiträgt, von der Art der völlig unfruchtbaren Diskussionen, ob nun Herr Richter oder Herr Horowitz das Tschaikowsky-Konzert besser oder schlechter gespielt hat."
Dem widerspricht Joachim, der "Klavier-Kaiser" vehement und jeder Schallplattensammler von Klaviermusik kann diese Meinung für sich auf die Waagschale legen: "Zur Praxis von Kritik gehören meiner Ansicht nach solche Unterscheidungen durchaus. Drum zuckte ich gestern etwas zusammen, als Adorno sagte, für wie unendlich unwichtig er es hält, ob und wie nun Herr Horowitz oder Herr Richter das Tschaikowsky Konzert spielt. Ich frage mich dennoch, ist es nicht einer Überlegung wert, herauszufinden, ob beispielsweise Herr Richter das Tschaikowsky-Konzert entbrutalisieren kann? Svjatoslav Richter versucht Tschaikowskys b-Moll-Konzert so zu spielen, als ob es von einem russischen Robert Schumann wäre. Dabei bricht es in sich zusammen. Horowitz indessen brutalisiert das Konzert, er steigert es ins Hysterische und gibt ihm damit eine Art von virtuoser, partikularer Wahrheit."
Hör-Tipp
Musikgalerie, Montag, 9. Juni 2008, 10:05 Uhr