Peiniger und Opfer

Die Haut, in der ich wohne

Thierry Jonquets Roman ist im Original bereits 1984 erschienen. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil man sonst annehmen könnte, der Text beziehe sich auf aktuelle Ereignisse, die Österreich in den letzten Jahren erschüttert haben.

Zu Beginn des Romans begegnet der Leser dem berühmten plastischen Chirurgen Richard Lafargue, an dem vor allem eines interessant ist: die Art und Weise, wie er seine Frau quält. Er hält sie in einem luxuriösen Verlies gefangen, das sie nur dann verlassen, wenn beide einmal im Monat eine junge Dame in einer Nervenheilanstalt besuchen. Danach zwingt der Chirurg die Gefangene, sich jedes Mal zu prostituieren. Auf der Straße muss sie wildfremde Männer aufgabeln und mit ihnen vor den Augen des Mannes Sex haben. In einem Appartement lässt sie sich auspeitschen, während ihr Mann durch den Einwegspiegel das Treiben beobachtet.

Langsame Annäherung

Im Gegenschnitt berichtet der junge Vincent, wie er ebenfalls in einem Verlies wie ein Hund gefangen gehalten wird. Er leidet Hunger, Durst und nur ab und zu kommt sein Peiniger, um mit ihm ein wenig zu reden. Doch nach und nach nähern sich die beiden an. Die Gespräche werden länger, das Loch wird nach und nach zu einer Wohnung und manchmal bekommt Vincent sogar Geschenke.

Seine Großzügigkeit schien keine Grenzen mehr zu kennen. Eines Tages ging die Kellertür auf. Unter großen Mühen schob er ein riesiges Paket auf Rollen vor sich her. Dann hat er dir das Datum genannt. Der 22. Juli. Seit zehn Monaten warst du jetzt sein Gefangener. Du warst 21 geworden. (...) Freudig bist du um das große Geschenk getanzt, hast lachend in die Hände geklatscht. Du hast die Form sofort erkannt. Es war ein Klavier, ein Steinway.

Im Spinnennetz
Im Original heißt dieser dünne Roman "Mygale". So nennt der Gefangene Vincent, den Mann, der ihn eingesperrt hält, weil er ihn an die Vogelspinne gleichen Namens erinnert. Der Originaltitel passt auch deshalb weit besser zum Roman als der beliebig wirkende deutsche, weil er auf das Netz hindeutet, in dem die Protagonisten gefangen sind.

Wie sich die Opfer mit ihren Peiniger arrangieren; wie im Laufe der Jahre eine Komplizenschaft, ja so etwas wie Liebe von Seiten des Opfers aufkeimt, das beschreibt Thierry Jonquet mit fast schmerzlicher Eindringlichkeit.

Auflösung zum Schluss
"Die Haut, in der ich wohne" ist ein Kriminalroman. Das bedeutet, dass der Autor am Schluss die offenen Fragen und Verstrickungen auflöst. Warum der Chirurg Leute gefangen hält, warum er gerade diese Personen gefangen hält und was es mit der irren jungen Frau im Sanatorium auf sich hat. Am Ende fügt sich alles zu einer logischen Erklärung.

Die Stärke des Autors zeigt sich darin, dass er es schafft, selbst die absurdesten Wendungen nachvollziehbar zu machen. Diese Auflösung nimmt dem Buch aber auch ein wenig den Schrecken, denn am besten ist der Roman, solange man eben nicht weiß, warum der Chirurg sich verhält, wie er sich verhält. Lange Zeit wirkt er wie das absolut Böse, wie ein Sadist, der aus reiner Lustbefriedigung Menschen erniedrigt. Er ist der zufällige Schrecken; der willkürliche Horror.

Freiheit und Macht
"Warum ich?" Diese Frage quält Vincent zu Beginn. Und auch dem Leser scheint es als wäre es reiner Zufall, dass gerade er dem Sadisten in die Hände gefallen ist.

Zusammengekrümmt zu seinen Füßen, hast du dich erleichtert und warst glücklich, getrunken zu haben. Du warst ein Nichts, du warst nur noch ein durstiges, hungriges und gequältes Tier. Ein Tier, das einmal Vincent Moureau geheißen hatte.

Was Thierry Jonquets Roman über die meisten Kriminalromane, die den Markt überfluten, hinaushebt, ist die Tatsache, dass hier die großen menschlichen Fragen angeschnitten werden. "Die Haut, in der ich wohne" ist mehr als alles andere eine Reflexion über Freiheit, Macht und Identität. Was ist Freiheit? Wer ist frei? Wie arrangieren sich Unterdrücker und Unterdrückte? Welche Mechanismen sind am Werk, dass der Herr und Peiniger nach und nach als Autorität gesehen wird? Das geht weit über das Individuell-psychologische hinaus; das kann ohne Weiteres als staatspolitische Metapher gelesen werden.

Und so, als wäre das noch alles nicht genug, thematisiert Jonquet - lange bevor Begriffe wie "gender" den Diskurs durchzogen haben - auch noch Fragen der sexuellen Identität. Und das alles komprimiert der Autor auf 140 Seiten. So spannende und kluge Unterhaltung hat man schon lange nicht mehr zu lesen bekommen.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 8. Juni 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Thierry Jonquet, "Die Haut, in der ich wohne", aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, Verlag Hoffmann und Campe

Link
Hoffmann und Campe - Die Haut, in der ich wohne