Wenn Mütter ihre neugeborenen Babies umbringen

Geboren und getötet

Unerwünschte Schwangerschaften können so stark verdrängt werden, dass niemand sie bemerkt und die Frau selbst von der Geburt überrascht wird. Dann ist die Gefahr groß, dass sie das Neugeborene aufgrund von Verwirrtheitszuständen oder Amnesie tötet.

In Österreich gibt es jährlich etwa ein bis drei Fälle an Neugeborenentötungen. Dennoch, das Entsetzen ist groß, die Tatsache, dass Mütter ihre eigenen Babies umbringen, schockiert und verunsichert die Menschen, stellt sie doch den Glauben an den Mutterinstinkt infrage.

Die Bezeichnungen für die Betroffenen sind nicht nur stigmatisierend, sondern führen in die Irre: es handelt sich bei diesen Frauen keineswegs um Menschen, die immer schon mit dem Gesetz in Konflikt standen, besonders Kinder hassend sind oder eine ausgeprägte kriminelle Energie besitzen. Fast das Gegenteil ist der Fall: sie werden von Nachbarn und Arbeitskollegen als "nett und unauffällig", meist auch "hilfsbereit", ja sogar als eine "Seele von einer Frau" beschrieben - "good girls", wie sie die US-amerikanische Neonatizid-Forschung nennt.

Vom "good girl" zur "Gruselmutter"?

"Mütter, die ihre Neugeborenen umbringen, sind in der Regel nicht desolat oder handlungsunfähig, so Theresia Höynck, stellvertretende Direktorin des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen."Nur in diesem Fall verhalten sie sich aus irgendeinem Grund anders, als sie es sonst tun oder für richtig halten würden."

Deshalb verdienten sie nicht Umschreibungen wie "Monster-Mütter". Häufig hätten die Frauen mehrere Kinder, die sie gut versorgten. Die Öffentlichkeit will klare Antworten, plausible Gründe. Doch dieses Bedürfnis muss weitgehend unbefriedigt bleiben. Weder handelt es sich vorwiegend um sexuelle missbrauchte, noch um unintelligente Frauen oder Frauen aus sozial desolaten Verhältnissen.

Auch wer meint, in einer schweren psychischen Erkrankung einen "Grund" für die Tat zu finden, liegt nur zum Teil richtig. Je nach Studie sind die Anteile unterschiedlich, eine allgemein gültige Erklärung für Neonatizid bieten sie nicht.

Ratlosigkeit macht sich breit, besonders bei den Müttern selbst. Nach Aufdeckung der Tat stehen sie oft unter Schock und bekommen Depressionen. Bis zur Entdeckung der Babyleichen lebten sie scheinbar "normal" weiter: Sie verdrängen die toten Kinder so wie zuvor ihre Ungeborenen.

Unglaubliche Abwehrmechanismen

Nahezu allen Frauen, die Neugeborene töten, ist gemeinsam, dass sie die Schwangerschaft bis zur Geburt massiv verdrängt haben und daher von der Geburt überrascht wurden. Diese Verdrängungs- beziehungsweise Abwehrmechanismen bringen die unglaublichsten Folgen hervor: Die Frauen sind nicht nur subjektiv überzeugt, nicht schwanger zu sein, sie haben tatsächlich einen weitaus geringeren Bauchumfang als Frauen mit gesund verlaufender Schwangerschaft, ja sogar Regelblutungen sind möglich.

Die abgewehrte Schwangerschaft ist ein Kontinuum, die Grenzen zwischen normal und pathologisch verschwimmend. Denn die Reaktionen von Frauen auf ihre Schwangerschaft sind ganz verschieden: Es gibt Mütter, die schon sehr früh eine Beziehung zum Baby aufbauen, das Baby durch den Bauch streicheln, mit ihm reden und Vorbereitungen auf das Leben nach der Geburt treffen. Häufig ist in den ersten Wochen eine ambivalente Haltung anzutreffen.

Suchtmittelabhängige Schwangere
Andere wiederum nehmen zwar wahr, dass sie schwanger sind, reagieren darauf aber nicht adäquat: Sie leben weiter wie bisher, also auch die Leibesfrucht schädigend, was insbesondere auf suchtmittelabhängige Schwangere zutrifft. Das Ende des Kontinuums bilden Frauen, die die Tatsache der Schwangerschaft nicht wahrhaben wollen und sie daher verleugnen. Sie schieben das Problem weg bis die Geburt "das Problem" ans Tageslicht bringt. Und dieses Problem - die Frauen nennen den Begriff "Kind" nicht - muss dann so rasch wie möglich beseitigt werden.

Bei welchen Frauen die sehr häufig vorkommende Schwangerschaftsabwehr noch rechtzeitig aufgehoben wird und bei welchen Frauen es zur Katastrophe der Tötung ihres neugeborene Babys kommt, bleibt ungeklärt.

Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 10. Juni 2008, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Frank Häßler, Renate Schepker Detlef Schläfke (Hrsg.), "Kindstod und Kindstötung", Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. 1. Auflage 2007

Margaret G. Spinelli (ed.), "Infanticide. Psychosocial and Legal Perspective on Mothers Who Kill", American Psychiatric Publishing. First edition 2003

Ian Brockington, "Motherhood and Mental Health", Oxford University Press, 1996