Robert Neumanns späte Anerkennung
Die Kinder von Wien
Das traurige Nachkriegspanorama hat seinem Autor keine Freunde eingetragen. Robert Neumanns 1947 erschienener Roman erntete ähnliche Kritik wie später Elfriede Jelineks oder Thomas Bernhards Werk. Die sorgfältige Edition ist ein Akt der Wiedergutmachung.
8. April 2017, 21:58
Es ist die unmittelbare Nachkriegszeit: Ein paar Kinder, die der Krieg übriggelassen hat, haben sich im Keller eines ausgebombten Hauses eingerichtet. So empfinden es zumindest die Kinder, in Wirklichkeit vegetieren sie dahin, moralisch, physisch und psychisch erschöpft.
Trauriges Personal
Die Stadt, in der sich die Kellerruine befindet, weist große Ähnlichkeiten mit Wien auf, aber es könnte auch eine andere Stadt sein. Das älteste der Kinder, das Mädchen Ewa, ist ungefähr 15 Jahre alt; die Männer sind scharf auf sie, sie schlägt sich mit gelegentlicher Prostitution durch. Ihre Freundin heißt Ate und war BDM-Führerin. Und dann ist da ein gewisser Jid, er ist 13 und mit allen Wassern gewaschen; nichts was er nicht im Nu organisieren könnte. Jid kommt aus dem KZ. Aus einem Kinderverschickungslager kommt ein anderer der Kellerbewohner, Goy hat ihn Robert Neumann genannt, wie die jüdische Bezeichnung für Nichtjuden. Goy ist blond. Und außerdem ist da auch noch Curls, sechs, sieben oder neun Jahre alt, wer vermag das zu sagen, wegen seiner blonden Locken wird er eben Curls genannt. In einem Kinderwagen liegt das "Kindl", ein Mädchen im Babyalter mit Ballonbauch.
Der Erlöser dieser von Krieg und Nachkrieg zusammen gewürfelten Kinderschar könnte ein schwarzer Reverend der US-Armee sein; er tut alles, um die Kinder aus ihrem Dreckloch herauszuholen. In die Schweiz, ins gelobte Land, will er sie führen. Die Mission scheitert.
Bittere Lehre
Das ist der Plot der "Kinder von Wien" und auch schon die Moral der Geschichte: Robert Neumann erzählt davon, wie die Humanität des schwarzen Priesters am Nachkriegspragmatismus zuschanden geht. Für keine der Parteien, nicht für die Amerikaner, nicht für die Russen, nicht für die neu-alten Eliten in den besiegten und besetzten Ländern geht es um die Verwirklichung von Idealismus; es geht vielmehr um Pragmatismus im Zeichen des West-Ost-Konfliktes. Denn kaum ist der große Krieg vorüber und die Nazis besiegt, beginnt schon der Kalte Krieg. "Haben wir vielleicht das falsche Schwein geschlachtet", fragt ein anderer Reverend der US-Army, und drückt damit jenen geopolitischen Pragmatismus aus, der für die mentalen Verheerungen in den Köpfen der Besiegten schon keine Zeit mehr hat; der sich schon wappnet für die nächste Schlacht. Der vor allem ein Entlastungsargument für die Besiegten offeriert; jenes, Bollwerk gegen den Bolschewismus gewesen zu sein, also eigentlich immer schon auf der richtigen Seite.
Geglückte Kunstsprache
Dass Neumanns Roman sowohl ästhetisch als auch politisch geglückt ist, liegt an der Sprache, die der begnadete Parodist und Satiriker für die moralische Katastrophe dieser unmittelbaren Nachkriegsjahre gefunden hat; und für die politische Katastrophe. Es ist eine Kunstsprache, die Neumann zuerst für die englische Fassung erfand, und die er dann kurz vor seinem Tod ins Deutsche übersetzte. "Sie haben deutsch gesprochen", schreibt Neumann im Vorwort über seine Protagonisten, "gemischt mit Jiddisch, gemischt mit American Slang und Popolski und Russian Slang, damals, dort, in dem Keller in Wien".
Diese Sprache dekonstruiert die großen Worte einer humanistischen Bildungstradition und die großen Worte der Sieger. Der kleine Curls kennt ein Gedicht: Er kündigt es den andern folgendermaßen an: "Curls: 'Ich mein dieses Gedicht. Das Horstwesselgedicht. Das geht so. Über allen Gipfeln ist Ruh. In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch. Die Vögel schweigen im Walde. Warte nur, bald ruhest du auch'."
Darauf heißt es im Roman: "Stille. Keiner, der was sagt." Schließlich fällt Jid doch noch ein anderes Gedicht ein, das es mit dem Gehörten vielleicht aufnehmen kann: "Jid, endlich: 'Ich weiß ein Gedicht. Aber es reimt sich nicht.' Sagt er es auf: 'Wir der President von die United States und der Erste Minister von was man es nennt the United Kingdom betrachten wir es als richtig zum Verkünden gewisse Grundsätze'." Deutlicher kann man den Abstand zwischen schönen Worten und der Alltagsrealität nicht zur Sprache bringen.
Das erzeugt auch komische Effekte. Diese kollidieren mit einer unglaublichen Brutalität, die ganz nebenher geschieht. Ein geiler ehemaliger SS-Mann dringt in den Keller ein; die Kinder, starr vor Angst, schlagen ihn schließlich halbtot. Nach dieser Szene tritt der schwarze Reverend auf. Mit dieser Figur schuf Neumann eine Lichtgestalt, ohne dass die Geschichte jemals kitschig würde. Ein deklassierter Schwarzer aus den Vereinigten Staaten trifft auf eine Schar deklassierter und demoralisierter Kinder im Nachkriegseuropa.
Härte und Menschlichkeit
Robert Neumann inszeniert einen großen Schlussdialog zwischen dem Reverend Smith aus Louisiana und seinem weißen Vorgesetzten, ebenfalls Priester im Dienste der Army. Der Kampf zwischen christlicher Brüderlichkeit und pragmatisch gewendetem, opportunistischem Glauben geht schlecht aus für den vermeintlichen Retter der Kinder. Es geht ans Herz, wenn wir als Leser verfolgen müssen, wie alle Hoffnungen schwinden. "Mein Bruder", sagt der latent rassistische Pragmatiker, "wir müssen an einem dieser langen Abende einen guten Talk haben darüber, wie sich das kombiniert - Härte und Menschlichkeit. Ist unsere Kirche etwa nicht menschlich? Aber sie ist hart! If you look at it in the right way: unser ganzer Glaube ist hart. Weil das Leben hart ist. "
Späte Anerkennung
Es hat lange gedauert, bis die Qualitäten der Neumannschen "Kinder von Wien" erkannt wurden. Das geht aus dem umfänglichen, sehr persönlich gefärbten biographischen Nachwort zu Robert Neumann von Ulrich Weinzierl hervor, das eine gute Einführung zu einem nahezu vergessenen Schriftsteller darstellt.
Ausgerechnet das "Neue Österreich", publizistisches Nachkriegsorgan von Christlichsozialen, Sozialisten und Kommunisten, war sich in der Ablehnung von Neumanns Buch einig. Ulrich Weinzierl zitiert aus der Rezension von 1948: "Es geht nicht an, dass Österreich widerspruchslos ein Buch akzeptiert, das für das Land, für die Stadt, ihr millionenfaches Blutopfer und die jahrelange Bitterkeit gequälter Menschen nichts anderes übrig hat als ein zynisches Kaleidoskop." Ähnliche Sätze sind Jahrzehnte später auch im Zusammenhang mit den Werken Thomas Bernhards und Elfriede Jelineks gefallen.
Am Opfermythos Österreichs und an der Ideologie der friedlichen alten Kulturnation, die von den Nazis vergewaltigt wurde, bauten in schlechter österreichischer Harmonie viele mit, bis in die jüngste Zeit.
In der nun vorliegenden vorbildlichen Ausgabe im Rahmen der "Anderen Bibliothek" bei Eichborn wird Neumanns Roman von SW-Fotografien des österreichisch-amerikanischen Fotografen Ernst Haas flankiert, die zwischen 1945 und 1948 in Wien entstanden sind. Auch wenn sie die Zerstörung zeigen, ihre perfekte Reproduktion ist fast zu schön, um wahr zu sein. Im Vergleich zu diesen Fotos wirkt der Text wahrer, härter, unversöhnlicher. "Die Kinder von Wien" sind ein ästhetisch und moralisch überzeugendes Dokument der österreichischen Nachkriegsliteratur und der österreichischen Exilliteratur. Nun widerfährt dem 1974 erstmals auf Deutsch erschienenen Buch und seinem Autor späte, aber hoffentlich nachhaltige Gerechtigkeit.
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Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Robert Neumann, "Die Kinder von Wien", Eichborn Verlag