Verweilen, Entschleunigen, Innehalten

Die Spirale der Beschleunigung

Die Menschen laufen fieberhaft vom Bürosessel ins Fitnesscenter, von der Paartherapie zur Weiterbildung, vom Geschäftsessen zum Erlebniswochenende. Das Leben ist voll gestopft, man hat keine Zeit und versinkt dennoch in Langeweile.

Das Leben wird immer schneller. Hochgeschwindigkeitszüge rasen durch die Landschaft, die Strecke Wien - Bangkok kann man im Flugzeug in zehn Stunden überwinden, ein E-Mail versandt per Mausklick erreicht seinen Empfänger binnen Sekunden - überall auf der Welt. Computer verrechnen in kürzester Zeit immense Datenmengen, gleichzeitig rumpelt die Waschmaschine, die Tiefkühlpizza macht sich selbst im Backrohr und der nächste Termin wird via Handy fixiert. Beschleunigung auf höchstem Niveau.

Kein Entkommen

Die Beschleunigung macht vor keinem Lebensbereich halt. Gesundheitswesen, Politik, Rechtssystem und Marktwirtschaft sind ebenso betroffen, wie die individuelle Arbeits-, Lebens- und Freizeitwelt. Schnell ist gut, heißt die Devise. Denn je schneller man ist, umso mehr kann man in derselben Zeit bewältigen.

Alles zur selben Zeit

Das Grundproblem der Beschleunigung ist die Gleichzeitigkeit. Einst wusch man am Montag die Wäsche, ging am Donnerstag auf den Markt und genoss am Sonntag die Zeit mit seiner Familie. Solche zeitlichen Vorgaben gibt es heute nicht mehr - weder im Privat- noch im Berufsleben.

Man kann zu fast jeder Zeit arbeiten, frei nehmen, einkaufen, Sport machen, telefonieren, ins Museum gehen, einen Film anschauen, essen gehen. Der Mensch wird ständig vor die Entscheidung gestellt, wann er was machen möchte, muss oder soll. Sämtliche Anforderungen müssen erledigt werden, am besten alle gleichzeitig.

Gefüllte Zeit

Jeder freie Zeitraum muss optimal genutzt werden. Nach Feierabend läuft man ins Fitnesscenter, zum Diskussionsabend oder zum Kultur-Event. Übers Wochenende jettet man nach Mailand, Riga oder Kopenhagen, geht Klettern, Golfen oder Nordic Walken, verbringt seine Zeit im Weiterbildungsseminar, Wellness-Hotel oder Selbsterfahrungskurs. Das Ergebnis: Gefüllt statt erfüllte Zeit.

Gedanken müssen reifen

Jeder Tag ist gefüllt mit Stress, Pflichten und Erlebnissen. So bleibt keine Zeit zum Verweilen, Innehalten, Rückblicken. Auch neue Gedanken können kaum entstehen, denn Kreativität braucht Ruhe. Man muss den Geist schweifen lassen, sich von engen Denkmustern trennen, sich treiben lassen.

Trotzdem ist nicht jeder schnell aufgegriffene Gedanke auch ein guter Gedanke. Schließlich müssen nicht nur Käse und Wein reifen, auch Gedanken müssen reifen. Denn wenn Projekte nicht mehr zu Ende gedacht werden können und zunehmend Fehler passieren, dann stimmt die Gleichung "schnell ist effizient" nicht mehr. Gut Ding braucht eben Weile.

Suche nach einem Ausweg

Wir haben nicht gelernt, unsere Zeit souverän zu nutzen. Freizeit wird oft von dem Gefühl der Leere geprägt - eine Leere, die mit Konsum, Sport oder Bildung gefüllt werden muss. Das Leben wird strukturiert, organisiert, verplant. Es ist voll gestopft, man hat keine Zeit und versinkt dennoch in Langeweile. Der Tag verschwimmt in einem gehetzten Einerlei. Aus dieser Spirale der Beschleunigung muss ein Ausweg gefunden werden. Ein Ansatz dafür könnte Entschleunigung heißen.

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 18. Juni 2008, 21:01 Uhr