Von Kieseln und Edelsteinen
All' Ungarese
Mit den Ungarn ist es nicht ganz einfach, was ihre Stellung in der Musikgeschichte betrifft, weil auf ungarischem Gebiet Jahrhunderte lang Roma und Sinti den musikalischen Geschmack so sehr dominiert haben, dass seit Haydn viele glaubten, "zingarese" sei "ungarese".
8. April 2017, 21:58
Nicht nur Haydn, später haben auch Schubert, Liszt, Brahms, Joseph Joachim und viele andere in der Meinung, all' ungarese zu komponieren, statt echter ungarischer Folklore melodische und rhythmische Eigenheiten der sogenannten "Zigeunermusik", also Musik der Roma und Sinti, übernommen.
Seit Bela Bartok, Zsoltan Kodaly und Laszlo Lajtha, der die folkloristische Sammeltätigkeit der beiden weitergeführt hat, wissen wir natürlich, dass ungarische Melodien in Liszts Manier ein falsches musikalisches Ungarnbild vermitteln. Oder sagen wir lieber einschränkend: ein alternatives.
Franz Liszt
Liszt hat schon in der Biedermeierzeit versucht, nicht nur durch seine Rhapsodien, dem damals gerade erwachenden Nationalempfinden der Völker Europas gerecht zu werden. Dass er sich aber im Laufe der Zeit bewusst geworden ist, dass er auch Melodieelemente der Roma und Sinti in seine Musik hat einfließen lassen - etwa durch jene spezifische Tonleiter, die von den Franzosen "mode hongrois", genannt, in der deutschen Musikgeschichtsschreibung aber stets als "Zigeunertonleiter" bezeichnet wird (kurz gesagt: kleine Terz, erhöhte Quart, kleine Sext und große Septime) -, belegt er selbst in seiner Schrift "Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn": "Ungarisch habe ich diese Rhapsodien genannt, da die Maygaren die Zigeuner als Nationalmusiker angenommen haben. Ungarn hat ein gutes Recht, eine Kunst sein eigen zu nennen, die von seinen Reben genährt, in seiner Sonne gereift, in seinem Schatten aufgewachsen ist."
Folkloristische Feldforschung
Im Gegensatz zu ihm haben viel später die Volksmusikforscher Bela Bartok und Zoltan Kodaly Volksmusik gesammelt - mit Hilfe technischer Mittel, wie dem damals noch neuem Phonographen. Darunter befanden sich nicht nur ungarische Bauernlieder, auch rumänisches, slowakisches oder bulgarisches Liedgut, das sie vor allem gegenüber jener städtischen, unterhaltenden Musik scharf abgrenzte, die allein Liszt für echt ungarisch gehalten hat. Diese und andere publizierten Sammlungen dienten dann als thematisches Reservoire, aus dem nicht nur von Bartok und Kodaly selbst, sondern auch andere ungarischen Komponisten, wie etwa Leo Weiner für seine staatspreiswürdige Suite op. 18 nach ungarischen Volkstänzen schöpften.
Manche wollten das allerdings nicht. So hat etwa der Brahms-Freund Joseph Joachim auf die Feststellung Wert gelegt, dass alle Melodien im Finale alla Zingara seines Violinkonzertes seine eigene Erfindung seien, auch wenn darin die Rhythmen des Verbunkos dominieren - jenes Tanzes der ungarischen Rekrutenwerber, der später eine partielle Metamorphose zum Czardas durchgemacht hat.
Ungarisches à la Brahms
Eigentlich war ja schon Johannes Brahms ein Vorläufer von Bartok und Kodaly - nur hat er ebenso wenig wie Liszt zwischen zwischen "zingarese" und "ungarese" unterschieden. Auf jeden Fall hat er auf Konzertreisen und in Archiven fleißig Melodien gesammelt. Über ihre Autorenschaft - im Druck heißt es nicht "komponiert", sondern "für das Pianoforte gesetzt von" - schreibt Max Kalbeck in seiner Brahms-Biographie:
Die "Ungarischen Tänze" sind bis auf wenige, die direkt von Brahms herrühren, allgemeines Eigentum, und gehören dem Glücklichen, der den Schatz vom Wege aufliest und seinen Gehalt zu würdigen und zu benützen versteht. Erst durch den Schliff erhält der Edelstein seinen vollen Wert, und erst die Fassung gibt ihm Ansehen und Bedeutung. Die ungarischen Amethysten und Topase wären bunte Kiesel geblieben, wenn Brahms sie nicht geschliffen und gefasst hätte.
Hör-Tipp
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