Kleine Kulturgeschichte des Spektakels
Der inszenierte Ausnahmezustand
Was heute Spektakel heißt, nannte man im alten Rom "Brot und Spiele". Und die gingen äußerst blutig ab. Blut fließt heute bei Massen-Spektakeln zwar nur mehr unfallhalber, der Sinn des Spektakels aber ist der gleiche geblieben: die Masse zu belustigen.
8. April 2017, 21:58
Die Begeisterungsfähigkeit der Menschen für den inszenierten Ausnahmezustand war vor 2.000 Jahren nicht geringer als heute. Panem et circenses lautet die Sentenz, die auf den römischen Dichter Juvenal zurückgeht. Er kritisierte die Methode der Regierenden, Aufruhr zu vermeiden: Das römische Volk lässt sich mit Wagenrennen im Circus Maximus und mit Gladiatorenkämpfen im Kolloseum bei Laune halten und dabei kostenlos verpflegen.
Viel hat sich nicht geändert seit damals, allerdings ist der Abstand der kritischen Elite zur begeisterten Masse in den letzten Jahrzehnten etwas kleiner geworden: Immerhin räsonieren Intellektuelle wie Peter Sloterdeijk und Klaus Theweleit heute gerne selbst über Fußball und machen ihn zum Spielplatz ihrer Gedankengebäude.
Die Sensationsgier befriedigen
Die Gladiatoren waren Berufskämpfer auf Leben und Tod, allerdings war ihre Ausbildung zu langwierig und kostspielig für den raschen Verschleiß. Deshalb ließ man verurteilte Verbrecher oder Kriegsgefangene gegen sie antreten oder auch gegen wilde Tiere, beide Male ein Todesurteil. In den Provinzen wurden Tierhetzen veranstaltet, um die Sensationsgier der Menschen zu befriedigen; die Bestien hatten wiederum gegen den geschulten Gladiator keine Chance.
In dieser Nachfolge steht der spanische Stierkampf, la corrida, die höchst umstrittene Praxis, eigens gezüchteten Kampfstieren in der Arena unter dem Gejohle des Publikums kunstvoll das Leben zu nehmen. Karl Vocelka, Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien: "Tierkämpfe oder -hetzen gibt es schon seit sehr langer Zeit, wobei die Form des Stierkampfes typisch mediterran ist: Mann gegen Stier."
A Hetz muaß sein
Der Wienerische Ausdruck "Hetz" für Spaß kommt von der Tierhetze der Barockzeit, das Wiener Hetztheater befand sich im heutigen 3. Bezirk, eben in der Hetzgasse. Vermutlich hat es der in Spanien erzogene Karl VI. importiert, unter ihm wird es jedenfalls in Wien populär. Stets ausverkauft waren die Vorstellungen, wo Auerochsen, Bären, Stiere, Wildschweine und Wölfe, gelegentlich auch ein Löwe oder Leopard, zum Gaudium des Publikums von Hetzhunden zu Tode gejagt wurden.
Ein solches Hetzspiel war auch die höfische Jagd. Auf der Treibjagd wurde Wild auf eigens ausgelegten Jagdstrecken durchgehetzt. Derartige Spektakel vereinten Elemente des sportlichen Wettbewerbs und die Gelegenheit zum Aggressionsabbau. Dieses Männervergnügen inszenierte man gerne, um nebenbei den Damen zu imponieren: zum Beispiel das mittelalterliche Ritterturnier. Ursprünglich als Praxistraining gedacht, als Waffenübung für den Ernstfall, wird es bald zum inszenierten Schaukampf, der noch bis weit in die frühe Neuzeit populär bleibt.
Von Schaulustigen umzingelt
Besondere Vorliebe fürs Spektakuläre hatte das Barockzeitalter. Die Schaulust der Bürger wurde durch Sensationen befriedigt: menschliche Abnormitäten etwa wie Riesen oder Zwerge, die Darbietung von Kuriositäten, Akrobatik, Pantomime und dressierten Tieren. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus der Zirkus: zunächst in festen Spielstätten, später im Zelt.
Artisten und Schausteller gab es auch auf Jahrmärkten. Auf dem Kirtag zum Beispiel, zu dem der Tag des Kirchenpatrons den religiösen Anlass zum Volksfest bot. Auch das war bereits im Alten Rom zu finden. Die legendären Saturnalien, die antiken Feiertage der Völlerei und Sinnenlust, wurden zu Ehren des Gottes Saturn in der zweiten Dezemberhälfte ausgerichtet; ein Saturnalienfürst wurde gewählt, der Rex bibendi, der "König des Trinkens". Wein und Würfelspiel und lockere Sitten gehörten dazu, außerdem beschenkte man einander wie zu Weihnachten.
Erotik als wichtiger Bestandteil
Eros und Tanathos gehören gleichermaßen zum Spektakel: Aggressionsabbau ist beim sportlichen Wettkampf ebenso intendiert wie in der brutalen Ausgelassenheit der Raunächte. Die Libido ist ein wichtiges Element des Karnevals, bis heute steigt die Scheidungsrate nach dieser Zeit empfindlich an. Aber auch als Spiel veranstaltete Wettkämpfe haben Platz für Erotik: nicht nur das Ritterturnier hatte Balzcharakter, auch dem Gladiator verlieh die Aura der Todesnähe eine besondere erotische Attraktivität.
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts erreichte die Vereinigung von Eros und Thanatos im Spektakel Kultstatus, etwa in den Happenings der Wiener Aktionisten, in den Aktionen Otto Mühls oder dem Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch. Dionysisch müsse es sein, das Spektakel, sagt der in der 68er-Bewegung sozialisierte Philosoph Herbert Lachmayer, Leiter des Da Ponte-Instituts: "Das war auch geil zu sehen, wie diese fahlen Pappnasen einer angepassten Gesellschaft nicht mehr zurechtkamen damit."
Lustexplosion ohne Grenzen
Der Anspruch an die Qualität des Spektakels hat sich verändert: Der inszenierte Ausnahmezustand durch von außen festgesetzte Ereignisse genügt nicht mehr, unterstützt von Drogen soll die Entgrenzungssituation eine universale werden, Bewusstseinsveränderung lautet die Aufgabe: "Spektakel ist eine eskapistische Form einer Lustexplosion, die im Grunde die Grenzen und das Ende nicht mit bedenkt und wo man am Ende ein anderer geworden ist", meint Lachmayer.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 28. Juni 2008, 17:05 Uhr
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