Bedeutung der Region für Europa
Der Balkan
Mark Mazower ist ein profunder Kenner der Balkan-Region. In seinem Buch zeichnet er dessen bewegte Geschichte nach, erklärt Entwicklungen und versucht, Klischees zu entkräften. Anlass dazu waren die Konflikte nach dem Zerfall von Jugoslawien.
8. April 2017, 21:58
Angenommen eine Dame der, sagen wir, feinen Pariser oder Wiener Gesellschaft um 1750 hätte - aus welchen Gründen immer - nach Istrien auf Sommerfrische fahren wollen, - sie hätte nie gesagt, dass sie auf den Balkan reise, erklärt Mark Mazower:
"Man hätte vielleicht gesagt, man fährt nach Illyrien. Der Balkan war ein völlig unbekannter Begriff. Man hätte auch sagen können, man fährt in die Türkei. Um 1820 wurde das Wort Balkan nur dann verwendet, wenn Reisende von Bulgarien auf ihrem Weg nach Konstantinopel die Rodopi-Berge oder das Balkangebirge überquerten. Es dauerte etwa 100 Jahre, bis sich der Begriff als Bezeichnung für die ganze Halbinsel eingebürgert hatte."
Mark Mazower, britischer Historiker an der Columbia Universität in New York, ist ein langjähriger Kenner der Region. In seinem Buch "Der Balkan" zeichnet er dessen bewegte Geschichte nach, erklärt Entwicklungen und versucht, Klischees zu entkräften. Der Anlass dazu waren die Konflikte nach dem Zerfall von Jugoslawien Ende des 20. Jahrhunderts.
"Das Buch entstand einerseits aus dem Bedürfnis, die Geschichte des Balkans zu erklären und andererseits als Argument dagegen, wie man über den Balkan dachte", erklärt Mazower.
Vorherrschaft der Türken
Die Geschichte des Balkans ist vom osmanischen Reich geprägt. Die Vorherrschaft der Türken hielt sich bis ins 18. Jahrhundert. Die Region, die vor der Eingliederung ins osmanische Reich so fragmentiert war, wie sie nach deren Ende wieder sein sollte, profitierte durch eine gewisse Homogenität.
"Der Zusammenhalt hatte weniger mit Religion als mit der gezielten Förderung von Städten zu tun", erklärt Mazower. "Es gab also eine Art Regionalpolitik, die in 300 Jahren, die das osmanische Reich bestand, sehr gut funktionierte. Dann brach es auseinander." Und weiter: "Angenommen, man betrachtet die osmanische Periode nicht ausschließlich als finsterstes Mittelalter und angenommen, man versteht etwas von Verkehrsnetzen, dann ergeben sich aus der Vergangenheit interessante Schlüsse für das 21. Jahrhundert. Die EU finanziert etwa einige Straßen auf dem Balkan. Diese existieren seit den Römern. Doch nach dem Untergang der Türken verfiel dieses Straßensystem. Dieses ist aber unbedingt notwendig, um einen Zusammenhalt der ganzen Region zu fördern."
Negativ besetzter Begriff
Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist zwar der Balkan nun auch im Sprachgebrauch tatsächlich der Balkan, wie man ihn heute kennt. Doch der Begriff war nicht geografisch-neutral, sondern abwertend gemeint. Die Bildung von Nationalstaaten verlief nicht ganz so glatt, wie man es sich im übrigen Europa erwartet hatte. Wer vom Balkan redete, meinte damit primitives Chaos.
Mark Mazower erklärt die Hintergründe dazu: "Die christlichen Mächte Europas identifizierten sich sehr mit den Anliegen der Christen im osmanischen Reich. Sie unterstützen diese in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen, christliche statt moslemische Staaten zu gründen. Sie waren sehr optimistisch. Sie dachten sich, mit der Unabhängigkeit würden auch europäische Zivilisation, Ordnung und Friede einkehren. Und das war nun nicht Fall. Diese Hoffnungen vor der Unabhängigkeit erklären, warum danach der Begriff so negativ besetzt war."
Blutrünstige Barbaren?
Ein anderes Klischee, das sich lange zurückverfolgen lässt und das durch die Jugoslawienkrise wieder auflebte, ist die Vorstellung, dass auf dem Balkan blutrünstige Barbaren lebten. Auch dazu gibt es zahlreiche historische Dokumente. Mark Mazower beschreibt in seinem Buch etwa die Vermittlungsbemühungen des Briten Sir John Gardner Wilkinson, der in den 1940er Jahren des 19. Jahrhunderts im Grenzkrieg zwischen Bosnien-Herzogowina und Montenegro zu vermitteln versuchte.
Bestürzt darüber, dass beide Seiten ihre Feinde enthaupteten und deren Köpfe öffentlich zur Schau stellten, schrieb er an den Fürstbischof von Montenegro, eine Gewohnheit, die so "scheußlich gegen die Menschlichkeit" sei, verlängere tatsächlich die Feindseligkeit, weil sie den Wunsch nach Rache wecke.
Diesen Brief schrieb der empörte Sir Wilkinson, wie gesagt, um 1845. Dabei war ihm offensichtlich entfallen, dass die in seine Augen so scheußliche Praxis auch in England noch nicht so lange aus der Mode war.
Ethnische Säuberungen
Die ethnischen Säuberungen in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts lösten weltweit einen Schock aus. Doch selbst diese, so der Historiker, stellen keine Anomalien der europäischen Geschichte dar: "Vor allem der Bosnienkrieg hat den Leuten die Augen geöffnet, dass das Phänomen der ethnischen Säuberung mindestens bis zu den Anfängen der modernen Nationalstaatenbildung zurückreicht. (...) Auch den Zweiten Weltkrieg kann man als Versuch der ethnischen Säuberung sehen. In Polen war die erste Maßnahme der Deutschen etwa, eine Million Polen zu vertreiben. Das ist eine ethnische Säuberung."
Dass der Kosovo nun ein unabhängiger Staat ist, überrascht Mark Mazower nicht. Der Prozess dazu hätte aber von mehr Feingefühl profitiert, kritisiert der Historiker: "Eine wichtige Frage ist, was die künftige Kosovo-Regierung mit ihrer Unabhängigkeit anfangen wird. Doch da bin ich nicht besorgt. Die Kosovo-Albaner haben genug Ressourcen. Die wahre Kernfrage ist vielmehr: Wie geht man mit den Sensibilitäten der Serben um. Das ist sehr wichtig. Die EU hat in diesem Konflikt immer eine große Rolle gespielt, doch nun kommt ihr eine ganz außerordentliche Bedeutung zu. Was sie den Serben nämlich anbietet, wird den Lauf der Dinge nachhaltig beeinflussen."
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Buch-Tipp
Mark Mazower, "Der Balkan. Kleine Weltgeschichte", aus dem Englischen übersetzt von Elvira Willems, Berliner Taschenbuch Verlag