Serienmord im stalinistischen Russland
Kind 44
Eigentlich ist das Department "Serienkiller" im Krimi-Genre schon lange ausgereizt. Tom Rob Smith hat daher versucht, seine Geschichte um einen Serienmörder im stalinistischen Russland diffiziler anzulegen. Das ist ihm zu einem guten Teil auch gelungen.
8. April 2017, 21:58
Die Sowjetunion im Jahre 1953. Noch ist Stalin am Leben und an der Macht. Europa, Mitteleuropa, dient als Kampfarena für den sogenannten "Kalten Krieg"; im Fernen Osten, in Korea, geht der erste "Stellvertreterkrieg" zwischen den "Supermächten" seinem Ende zu.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf
An einem Wintertag wird in Moskau, an den Bahngeleisen, die nackte und verstümmelte Leiche eines vierjährigen Buben gefunden. Mord, sagen die Eltern. Ein Unfall, verkünden die Behörden. Denn Kriminalität, noch dazu Kindsmord, gibt es nicht im stalinistischen Gesellschaftsschema.
Wenige Wochen später, Hunderte Kilometer von Moskau entfernt, am Rande des Uralgebirges, die nächste Kinderleiche: ein Mädchen, nackt und nach dem gleichen Muster verstümmelt. Der Junge und das Mädchen sind nicht die ersten Opfer, alle zusammen sind es am Ende 44 ermordete Kinder (daher auch der Romantitel "Kind 44"), verteilt über ganz Russland. Eine Mordserie, ein Serienmörder - das kann und darf es nicht geben im "sich entwickelnden Sozialismus", wie sich das Staatswesen in der marxistisch-leninistischen Terminologie nennt. Und die Serie wäre auch gar nicht aktenkundig geworden, wäre der Romanheld nicht zuerst in Moskau und dann am Ural in die polizeilichen Ermittlungen eingebunden worden. Am ersten Tatort noch mehr oder minder freiwillig, am zweiten zwangsweise, strafversetzt.
Degradiert un ans Ende der Welt versetzt
Doch eines nach dem andern: Leo Stepanowitsch Demidow heißt der Mann, Kriegsheld der Roten Armee, in Friedenszeiten Offizier der sowjetischen Staatssicherheit. Verheiratet mit einer bildhübschen Lehrerin namens Raisa, ist er dem "Dienste am Volke" und der "sozialistischen Sache" anfangs noch treu ergeben: in jeder Hinsicht ein Nutznießer des Systems und ein kleines Rädchen in Stalins Terrormaschinerie.
Doch bald kommen ihm Zweifel bei der Jagd nach Konterrevolutionären und Spionen, die keine sind und erst durch brutale Folter im Moskauer Lubjanka-Gefängnis zu den entsprechenden "Geständnissen" gezwungen werden. Als auch noch seine Frau durch die Intrige eines Kollegen in die Fänge des Apparats gerät, kündigt Demidow die Gefolgschaft auf, wird degradiert und als Provinzgendarm in eine Fabrikstadt am Ural versetzt. Dort geschieht der zweite Kindsmord, und insgesamt sind es dann - wie gesagt - 44 gewesen, bis der geschasste Geheimdienstoffizier bei seinen privaten und daher verbotenen Ermittlungen den Serienmörder zur Strecke bringt.
Gute Milieuschilderungen
Eigentlich ist das Department "Serienkiller" im Krimi-Genre schon lange ausgereizt. James Ellroy, einer der großen Meister dieser blutigen Disziplin, hat sich schon vor 15 Jahren davon distanziert, und tatsächlich kann die Literatur, das geschriebene Wort, bei diesen Metzeleien nur bedingt mit dem Film und seinen hyperrealistischen Spezialeffekten mithalten - siehe Thomas Harris und seine "Hannibal Lecter"-Romane.
Tom Rob Smith, Londoner des Jahrgangs 1979, hat daher versucht, die Geschichte diffiziler, kunstvoller anzulegen. Das ist ihm zu einem guten Teil auch gelungen - insbesondere, was das atmosphärische Element, die Milieuschilderungen des Moskauer Lebens am Ende der Stalin-Ära anbelangt. Auch der Prolog über die ukrainische Hungersnot in den 1930er Jahren, der wesentlich für die Auflösung der späteren Kriminalgeschichte ist, vermag durchaus zu beeindrucken.
Ein Roman wie ein Drehbuch
Trotzdem bleibt nach der durchwegs spannenden Lektüre von mehr als 500 Buchseiten ein etwas schaler Geschmack zurück. Etliches wirkt doch zu konstruiert, die Innenansichten des stalinistischen Apparats erinnern an George Orwell und Arthur Koestler, und auch das Täterprofil, die berühmte "Psychologie von der Geschichte", fällt allzu klinisch-traumatisch aus.
Deutlich wird: Da hat einer für eine Verfilmung hingeschrieben, und mit den diversen Verfolgungsjagden, die im Roman veranstaltet werden, könnte auch ausreichend für zusätzlichen "Pep" gesorgt sein. Wie so oft verrät auch hier der berüchtigte Klappentext mehr als so manchem Autor lieb sein kann: Denn in der knappen Biografie des Tom Rob Smith ist abgesehen von einem "creative writing"-Kurs in Italien - erstaunlich, dass es so etwas auch im Mutterland des künstlerischen und politischen Geniekults gibt, aber das nur nebenbei - abgesehen von diesem Schreibkurs also, hat Smith in den letzten Jahren als Drehbuchautor gearbeitet und fünf Monate lang in Phnom Penh, "Kambodschas erste Soap opera" mitentwickelt, so steht's tatsächlich am Buchumschlag.
Also, eine "soap opera" ist "Kind 44" wirklich nicht, und man hat sich - allen Einwänden zum Trotz - als Krimi-Leser schon öfter weit unter jenem literarischen und stilistischen Niveau "unterhalten" lassen müssen, als es Tom Rob Smith mit seinem Sowjet-Serienkiller-Thriller hier vorgelegt hat.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 6. Juli 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Tom Rob Smith, "Kind 44", aus dem Englischen übersetzt von Armin Gontermann, Dumont Buchverlag