Die älteste Lyrikzeitschrift der USA im Geldregen
Reich durch Poesie
Ein Glück soll das sein, wenn plötzlich der Reichtum über einen kommt. Ach je. Ein Schrecken ist es. Eine Umstellung. Und im Falle von "Poetry": das Ende der alten Identität. Die älteste Lyrikzeitschrift der USA wurde dank einer Millionen-Dollar-Spende zum Big Player.
8. April 2017, 21:58
Samuel Menashe, 83, ist der erste lebende US-Dichter, dessen Gesamtwerk durch die prestigeträchtige Library of America verlegt wird. Es ist eine späte Ehre. Sein Durchbruch kam erst 2004, als er den mit 50.000 Dollar dotierten "Neglected Master Award" erhielt. Der Preis wird jedes Jahr durch die Lyrikerzeitschrift "Poetry" vergeben, die ebenso wie Menashe lange ein mittelloses Schattendasein fristete.
Die älteste US-Lyrikerzeitschrift
"Poetry" wurde 1912 von Harriet Monroe gegründet. Ihre Idee war es, "jeden Monat die besten Werke der Dichter unserer Tage zu veröffentlichen". Alle Autoren Amerikas, auch die unbekannten, lud Monroe ein, Texte zu schicken. Bei "Poetry" erschienen die ersten Werke von T.S. Eliot und Ezra Pound. Nur dank kleiner Spenden konnte das Heft überleben. Zusammengestellt wurde es bis vor kurzem von gerade mal vier Redakteuren in einem fensterlosen Raum in Chicago.
Der Geldsegen
2001 kam der Anruf, der alles veränderte: Die Pharmaerbin und Hobbyliteratin Ruth Lilly überließ "Poetry" fast 200 Millionen Dollar. Andere Kultur-Institutionen hätten leicht Verwendung dafür gefunden. Dichtung jedoch spielt sich traditionell in einem Bereich ab, der nichts mit Kommerz zu tun hat.
Wohin mit dem vielen Geld?
Um die riesige Summe zu verwalten, gründete man eine Stiftung und ernannte John Barr zu deren Präsidenten. Der ehemalige Wall Street Profi hält es für eine Dummheit, wenn einige sagen, dass großer Reichtum und große Poesie nicht zusammen passen: "Wallace Stevens hat einmal gesagt: "Geld ist auch Poesie" - das gefällt mir!"
Raus aus dem Elfenbeinturm
Poesie so populär wie Hollywood-Filme: Das ist der Traum des neuen "Poetry"-Chefs. Barr glaubt, dass zu viele Dichter nur noch für sich und ihre akademisch geschulten Kollegen schreiben. Kürzlich engagierte er die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, um Gedichte im amerikanischen Fernsehen verlesen zu lassen. Außerdem führte er einen landesweiten Rezitier-Wettbewerb für Schulen ein: Den Finalisten winken Stipendien über 50.000 Dollar.
Ästhetischer Revisionismus?
Nicht alle freuen sich über die neue Ausrichtung. Joe Parisi war gut 20 Jahre lang der Chefredakteur von "Poetry". Sechs Monate nach der Millionenspende reichte er seine Kündigung ein: Er sah neben dem Qualitätsanspruch auch die Unabhängigkeit von "Poetry" gefährdet. Die Zeitschrift kooperiert jetzt mit mächtigen Partnern, die Mitspracherecht fordern. Kürzlich handelte das Heft sich Menge Ärger ein, als es die Programmpolitik der Kongress-Bibliothek in Washington kritisierte.
Identitätskrise
Inwiefern "Poetry" den Balanceakt zwischen l’art pour l’art und Reichtum meistern wird, ist noch nicht abzusehen. Geschäftlich steht alles zum Besten: Die Auflage ist durch die vielen Berichte und neuen Preise bereits von 8.900 auf mehr als 11.000 gestiegen. Inhaltlich hat sich das Magazin nicht verändert. Es erscheint weiterhin im Format DIN A5, 60 Seiten für 3,75 Dollar, ohne Fotos und mit einem großen Anteil unbekannter Autoren.
Hör-Tipp
Leporello, Dienstag, 8. Juli 2008, 7:52 Uhr
Link
Poetry Foundation