Ein Meilenstein der Sozialforschung
Die Arbeitslosen von Marienthal
Die richtungweisende Studie ist schon vor einem dreiviertel Jahrhundert zu dem klaren Befund gekommen, dass lang andauernde Arbeitslosigkeit Menschen apathisch und resignativ macht. An dieser Erkenntnis hat sich bis heute im Wesentlichen nicht viel geändert.
8. April 2017, 21:58
Die niederösterreichische Arbeitergemeinde Marienthal - eine halbe Zugstunde südöstlich von Wien gelegen - war mehr noch als andere Ortschaften von der Katastrophe betroffen. Im Februar 1930 schloss die große Marienthaler Textilfabrik ihre Pforten. Die Folge: Praktisch der ganze Ort war arbeitslos. Drei Viertel der 478 Marienthaler Familien waren ohne Arbeit und Brot.
In dieser Situation trat ein Team junger Sozialwissenschafter rund um Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel auf den Plan: Zusammen mit einem guten Dutzend junger Forscherinnen und Forscher - allesamt aus dem Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie stammend - erarbeiteten sie ihre berühmte Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal", ein Werk, das die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhundert maßgeblich mit beeinflusst hat.
Otto Bauers Impuls
Hans Zeisel, einer der führenden Mitarbeiter der Studie, war wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen gerade einmal Mitte zwanzig, als er sich an den Forschungen in Marienthal beteiligte. Kurz vor seinem Tod 1992 erinnerte sich Zeisel noch einmal daran, wie alles begann: "In Wirklichkeit hat der Otto Bauer die Studie erfunden. Unser Plan war, dass wir eine Erhebung über die Freizeit der Arbeiter machen wollen. Wir dachten, wunderbar, da werden wir rausfinden, was sie mit der neuen Freizeit machen... Da wurde Otto Bauer zornig. 20 Prozent Arbeitslosigkeit, Schande! Geht's und studiert's Arbeistlosigkeit.... Das war ein großes Abenteuer, und wir haben versucht, es so gut wie möglich zu machen." Und sie machten es gut, sehr gut sogar. "Die Arbeitslosen von Marienthal" - das ist bis heute eine der weltweit meistzitierten Studien zum Thema "Arbeitslosigkeit".
Soziales Engagement des Forschungsteams
Revolutionär war zum einen die Methodik der jungen Forscher: Sie werteten sowohl offizielle Statistiken und eigens von ihnen angefertigte "Katasterblätter" für jede einzelne Marienthaler Familie aus, sie suchten aber auch persönlichen Zugang zu den Bewohnern des Orts. Jede Forscherin, jeder Forscher - so ihr Prinzip - musste auch für die Bevölkerung nützliche Arbeitleistungen einbringen: Und so organisierten sie Gebrauchkleidersammlungen, offerierten einen Gratisturnkurs für Mädchen, boten kostenlose Schnittzeichenkurse an und sorgten für kostenlose ärztliche Beratung und Behandlung der Marienthaler Bevölkerung. Ein anschauliches Beispiel für angewandte Solidarität, die über dem Forschungsinteresse das Interesse an den Menschen, die man beforscht, nicht verliert. So heißt es in der Studie:
"Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben nützlich einzufügen hatte.
Die Wiener Sozialwissenschafterin Sabine Gruber zeigt sich auch 75 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen der Studie beeindruckt vom konkreten Engagement der Marienthal-Forscher und nennt sie die Vorreiter der sogenannten Aktionsforschung.
Keine Politisierung
Revolutionär war nicht nur die Methodik von Lazarsfeld, Jahoda und Co., revolutionär waren auch die inhaltlichen Erkenntnisse der Marienthal-Studie. Die Hauptthese lässt sich so zusammenfassen: Der Verlust des Arbeitsplatzes führt, anders als von vielen linken Theoretikern der frühen 1930er Jahre erwartet, nicht zu Politisierung und einer nach links gehenden Radikalisierung der Arbeitslosen, sondern zu schrecklicher Apathie, zu Hoffnungslosigkeit und allgemeiner Depression.
Dass Arbeitslose die neu gewonnene Freizeit dazu nützen, sich weiterzubilden oder politisch zu engagieren, ist eine fromme Illusion. Das wusste auch Marie Jahoda, die wesentlich am Entstehen der Marienthal-Studie beteiligt war. Nur geregelte Arbeit - und sei sie das, was man entfremdet nennt - nur geregelte Arbeit strukturiert den Alltag des Menschen, nur geregelte Arbeit sorgt auch dafür, dass der Mensch sich als sozial integriert empfindet.
Hohe erzählerische Qualität
Die 1937 ins britische Exil gegangene Marie Jahoda war die wichtigste Autorin der Marienthal-Studie. Ihr Anteil am Welterfolg der Studie kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, meint der Grazer Soziologe Reinhard Müller, einer der profundesten Kenner der Marienthal-Studie und ihrer Geschichte. Entscheidend dabei: Marie Jahoda - eine glühende Karl-Kraus-Anhängerin - hatte großes literarisches Talent. "Ich glaubee, das Bemerkenswerte an der Marienthal-Studie ist, daß sie eine starke erzählerische Qualität hat", sagt Müller.
Marie Jahoda selbst betonte in einem Gespräch mit Doris Stoisser: "Eine Sache, auf die ich immer achtgegeben hab, war eine allgemein verständliche Sprache zu schreiben, nicht nur für meine Berufskollegen, sondern für jeden, der an dem Problem interessiert sein könnte. Das heißt, den Jargon zu vermeiden, und die Klarheit des Ausdrucks zu schätzen."
Und das ist Marie Jahoda glänzend gelungen. Seit der Wiederentdeckung der Studie in den frühen siebziger Jahren sind die "Arbeitslosen von Marienthal" zum weltweiten soziologischen Bestseller avanciert. Kein Wunder: Nimmt man etwa die deutsche Ausgabe zur Hand - ein schmales, violettes Bändchen der Reihe "Edition Suhrkamp" - ist man sofort gefangen von diesem Text, der auch als beeindruckendes Stück österreichischer Alltagsgeschichtsschreibung bestehen kann. Die materielle Not der Arbeitslosen von Marienthal - Marie Jahoda und ihre Kollegen haben sie exakt beschrieben. Sie lassen etwa einen Marienthaler Lehrer im O-Ton zu Wort kommen.
Ein zwölfjähriger Schüler der zweiten Hauptschulklasse besitzt ein einziges Paar Schuhe, genauer: ihm hängen einige zusammengenähte Fetzen von den Füßen. Wenn es regnet oder schneit, kann er damit nicht auf die Straße. In seiner freien Zeit wird er vom Vater eingesperrt, damit er nicht durch Herumspringen diese armseligen Reste noch weiter gefährdet.
Auch in der von den Forschern eingerichteten Erziehungsberatungsstelle taucht immer wieder die Frage auf: Wie hält man die Buben vom Fußballspielen fern, damit sie sich nicht das einzige Paar Schuhe, das sie noch besitzen, ruinieren?
Reicht das Geld nicht einmal mehr für Schuhe und Kleidung, wird die ERKRANKUNG eines Kinds zur Katastrophe:
Frau S. erzählt: Das Kind ist eine große Sorge, es hat eine Rückenmarksverkrümmung, es muß ein Gipsmieder tragen, dazu sollte es gut genährt sein, aber das kann sie ihm nicht bieten. Durch die Krankheit des Kindes hat sie sich stark verschuldet.
Es geht auch anders
Langandauernde Arbeitslosigkeit führt in der Regel nicht dazu, daß die Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und sich in einem emanzipatorischen Sinn politisieren. Politisch treibt sie die Massen ganz im Gegenteil oft nach rechts - wie auch Marie Jahoda feststellen musste. Das sieht auch der Linzer Soziologe und Sozialhistoriker Josef Weidenholzer so, wenngleich er die New-Deal-Politik des US-Präsidenten Theodore Rooselvelt als Gegenbeispiel nennt.
Die heutige Sozialforschung hat einige kleine Korrekturen an der Marienthal-Studie angebracht. Im Großen und Ganzen aber, so betont Reinhard Müller, gelten die Ergebnisse der Studie bis heute: "Für mich ist hier eine Pionierleistung erbracht worden, die immer noch zu einem erheblichen Teil State of the art ist, die heute immer noch zu einem erheblichen Teil Gültigkeit besitzt." Und er ergänzt: "Ich bin fast der Meinung, dass man die Marienathal-Studie als die letzte relevante, sozial engagierte Studie Österreichs bis in die Gegenwart bezeichnen kann." Der Weggang der Autoren - von insgesamt 15 Personen sind nur zwei nicht ins Exil gegangen - markierte auch einen Bruch in den österreichischen Sozialwissenschaften, der bis in die Gegenwart anhält "und man hat auch vonseiten der Politik kaum Versuche unternommen, diese Traditionslinie wieder an den österreichischen Universitäten zu verankern", so Reinhard Müller.